Neuausgabe von LAVA - Im Schatten von Chaos und Verzweiflung
Neuausgabe von LAVA - Im Schatten von Chaos und Verzweiflung

Kolumbien:

Im Tal des Todes herrscht nackte Angst. Als der Vulkan Nevado del Ruiz ausbricht, begräbt eine Schlammlawine über 25 000 Menschen unter sich. Die Retter erwartet am Ort des Geschehens das blanke Grauen. Und sie selbst befinden sich auch in Gefahr, rumort der Vulkan doch noch immer, zeigen sich Anzeichen einer neuerlich bevorstehenden Eruption. Eine Seuche unbekannten Ausmaßes bricht derweil in der Zeltstadt der Überlebenden aus. Und im Schatten von Chaos und Verzweiflung nutzen zwielichtige Gestalten die Situation, um nicht bei ihrem mörderischen Treiben entdeckt zu werden...

 

Hochspannung pur, der neue Roman von Melissa Grey

Wenn der Mammon viel - und Menschenleben nichts bedeuten

Blick in: Glühende Lava

Die folgenschwere Eruption geschah um 21 Uhr 05.

   Das Ereignis begann mit einer kurzen, starken Erschütterung, die in weitem Umkreis spürbar war. Auslöser des Vulkanausbruchs war ein gewaltiger Druck in 50 Kilometern Tiefe und ein sogenannter Überkocheffekt.

   Dass im kolumbianischen Berggebiet die Gefahr von Erdbeben und Vulkanausbrüchen groß ist, weil sich vom Mittel- und Südpazifik her eine 100 Kilometer dicke Erdplatte unter die Kontinentalscholle schiebt, war seit einiger Zeit bekannt. Diese Verlagerung, ungefähr 9 Zentimeter pro Jahr, hatte schon vor Jahrmillionen begonnen und zur Entstehung der Anden geführt. Durch die Reibung entsteht Wärme, außerdem wird wasserhaltiges Material von der oberen Kruste in die Tiefe geschoben. Dort setzt es den Schmelzpunkt des Gesteins entscheidend herab. Diese Vorgänge führen zur Entwicklung von Gasen, die sich immer stärker ausdehnen. Sie dringen in Spalten ein, der Druck steigt, bis der Vulkan durch die starken inneren Spannungen schließlich ausbricht.

   Die Erdkruste hielt dem brodelnden Magma nicht länger stand. Der Überdruck war so groß, dass er die unterirdischen Spalten im Vulkaninnern aufriss und in gewaltigen Explosionen unter Ausstoß von riesigen Aschemengen eskalierte. Danach trat eine Flut von Lavaströmen aus den klaffenden Spalten aus, die Erdwunden vergrößerten sich rasch, die Krusten wurden fortgeschleudert, und alles vereinigte sich im großen Krater zu einem See. Rotglühende, zähflüssige Lava stieg blubbernd und Blasen bildend in die Höhe, bis sie den Kraterrand erreichte und, durch die Steilheit des Hanges beschleunigt, talwärts auf den sich ruhig im Mondlicht badenden Gletscher zuströmte. Die glühendheißen Lavaströme dampften. Sie erreichten den riesigen Gletscher und stauten sich. Das Eis schmolz durch die hohen Temperaturen rasch ab, verband sich mit dem Magma zu dem von Geologen gefürchteten Lahar und drang ins Gletscherbett ein, das sich wie ein Riesenschwamm vollsog. Der harte, zuvor gefrorene Humus lockerte sich und die Masse der nachdrängenden Lava löste einen Erdrutsch aus, eine Schlammlawine, die mit einer Geschwindigkeit von fast 100 Stunden-kilometern zu Tal donnerte und alles mit sich riss. Tosend wälzte sich die Lawine die Bergflanke hinab und schob das Wasser der beiden Gebirgsflüsse Guali und Lagunilla als Flutwelle vor sich her. Bäume wurden mitgerissen, und wo die Täler sich verengen, selbst oben am Hang stehende Hütten und Häuser.

Nur wenige Menschen erkannten die Katastrophe frühzeitig und verließen fluchtartig ihre Behausungen. Einige flohen, wie sie es vor Wochen im Radio gehört hatten, hangaufwärts, andere hetzten blindlings talwärts, wurden rasch von der Schlammwalze eingeholt und überrollt.

  

Gerade als Fabián die halbhohe Stalltüre öffnete und zu den Tieren hinein wollte, wurde die Erde von einem kurzen, heftigen Stoß erschüttert, der so stark war, dass der Junge rücklings zu Boden stürzte. In Panik sprangen die Tiere über ihn hinweg ins Dunkel. Auch einige Hühner schafften es und flatterten über den Zaun. Pedro strich winselnd um den vor Schreck gelähmten Buben. Er leckte ihm mit seiner feuchten, rauen Zunge quer übers Gesicht und stieß ihn mit der kalten Schnauze an, bis Fabián sich endlich aufrappelte.

   Ringsum war es merkwürdig still.

   In den Sekunden des Bebens hatten die vier Menschen im Innern der Hütte den Atem angehalten. Zwar waren kleinere Beben nichts Ungewöhnliches mehr, doch einen so heftigen Stoß hatten sie noch nie erlebt. Geschirr und Töpfe lagen zerbrochen am Boden, aber die Petroleumlampe hatte Juana gerade noch festhalten können. Jäh schrie sie auf, als sie spürte, dass ihr das heiße Glas die Finger verbrannte. María presste die kleine Adriana fest an sich, doch als kein weiterer Stoß erfolgte, atmeten alle erleichtert auf. Ihr kleines Haus stand noch. Doch wo blieb Fabián? „Fabián!“ Maria biss sich auf die Lippen. Wenn ihm bloß nichts zugestoßen war!

   Sebastián dachte dasselbe. Er stand auf und ging zur Tür. „Ich sehe nach. Ihr bleibt besser hier drin.“ Kaum war er draußen, zerriss ein heftiger Knall die bleierne Stille. Sebastián wandte sich um und sah über dem Vulkan einen riesigen Feuerball stehen. Nur Sekunden nach der ersten Detonation folgte eine zweite.

Fabián hatte den Vater erblickt, stolperte mit schreckgeweiteten Augen zu ihm und klammerte sich an seinen Arm. „Der Vulkan!“, flüsterte er.

   Der Vater nickte und wusste nun, was die Ereignisse bedeuteten. Ihm steckte ein Kloß im Hals. Man hatte sie gewarnt, aber niemand hatte richtig daran geglaubt. Por Díos! Nach dem ersten Schock erwachte langsam seine Handlungsfähigkeit und er erinnerte sich der Meldungen aus dem Radio. „Corre, Fabián! Lauf, so schnell du kannst! Halte dich nach links und versuche den Hang hinaufzukommen!“

   Während er redete, begann die Luft zu rauschen. Das Geräusch schwoll rasch zu einem schrillen Pfeifen an, so dass Sebastián nicht wusste, ob ihn der Junge wirklich gehört hatte. Aus der Schwärze des Himmels fielen winzige, glühende Steinchen. Die Erde zitterte unter ihren Füßen. „Hast du mich verstanden, Fabián?“, schrie Sebastián.

   Dieser nickte, aber er rannte nicht. Die Familie ...

  „Lauf, Junge! Ich kümmere mich um die anderen. Um Gottes willen, lauf!"

   Endlich setzte der Bub sich in Bewegung, während Sebastián zurück ins Haus stürmte. Fabián lief, so schnell er konnte. Die eindringlichen Worte des Vaters beflügelten ihn. Er hielt sich wie befohlen nach links und hetzte schräg zur Bergflanke hangaufwärts. Von überallher vernahm er nun das dumpfe Gurgeln und Grollen der Schlammmassen.

   Die Geschwindigkeit, mit der die Katastrophe ihren Lauf nahm, war unglaublich hoch. Mit über 100 Stundenkilometern stürzte sie sich wie auf einer Bobbahn zu Tal und begrub alles unter sich. Bereits wälzten sich die ersten sichtbaren Vorläufer über einen der Bergkämme. Obwohl noch weit oberhalb des kleinen Tals und ihres ärmlichen Hauses, erstarrte Fabián vor Grauen, als ihm bewusst wurde, was kommen würde. Er hörte sich selber schreien mit einer Stimme, die einem anderen zu gehören schien. In jähem Begreifen stiegen ihm die Tränen hoch. Er rannte weiter, tränenblind und auf einmal völlig mutlos. Doch er rannte.

   „María!“, schrie Sebastián, als er zur Tür hereinstürzte. Er taumelte vor Angst und Aufregung. „Kommt, los! Raus hier! Beeilt euch, Kinder, lauft!“

   In verständnislosem Nichtbegreifen starrten sie ihn an, doch sie sprangen auf und gehorchten instinktiv seiner heiseren, drängenden Stimme. „Por qué, warum?“, stieß María hervor, während sie, ihr Jüngstes fest an sich pressend, ihren aufgeregten, totenblassen Mann umschlang. Dieser schwitzte und fror gleichzeitig. Dicke Schweißtropfen perlten auf seinem Gesicht und saugten sich in sein Hemd.

   „Der Vulkan...!“ Die Erkenntnis machte María leichenblass. Sebastián kam nicht dazu zu antworten. Ein tosendes Brüllen machte ihnen den Atem stocken. „Díos mío!“ María wurde noch bleicher. Die Kinder rannten an ihnen vorbei aus dem Haus.

   Lozano packte das schmale Handgelenk seiner Frau und zerrte sie mit sich. Dabei schrie er und versuchte den Lärm des Berges zu übertönen: „Lauft nach links den Hang hinauf! Folgt Fabián! Nach links, hört ihr? Lauft den Hang hinauf!“ Seine Stimme überschlug sich fast, und wieder war er sich nicht sicher, ob sie ihn verstanden hatten. María... Er musste sich jetzt um seine Frau und das Baby kümmern! Fabián war sicher schon fast oben. Er würde bald in Sicherheit sein. Sie brauchten ihm nur zu folgen ...

   Seit der harten Erschütterung und den kurz aufeinander folgenden Explosionen und der sich plötzlich überstürzenden Ereignisse waren nur wenige Minuten vergangen. María lief, gemäß den Weisungen ihres Mannes, nach links den Hang hinauf, folgte ihren Kindern, die nur wenige Meter vor ihr sein mussten. Und irgendwo weiter oben war Fabián. Fabián... María weinte. Fest presste sie das wimmernde Mädchen an sich. Sie ahnte, dass sie ihre Familie nie wiedersehen würde. Ihre Beine trugen sie kaum. Tränenblind stolperte sie und fiel hin. An scharfkantigen Steinen riss sie sich die Hand auf und schürfte sich die Knie. O Gott, nur weiter! Nur nicht aufgeben! Sie riss sich hoch und lief taumelnd weiter. Bis sie erkannte, dass sie keine Chance hatte. Keine...! Wie ein Schmiedehammer dröhnte dieses Wort in ihrem Kopf. Keine, keine, keine! „Sebastián!“, schrie sie voller Verzweiflung. Sie stürzte erneut auf die Knie nieder, presste das kleine Bündel Mensch an sich. Tränen liefen ihr in Strömen übers Gesicht. Sie konnte nicht mehr. Das Entsetzen war zu groß und lähmte sie.

   Sebastián war vor dem Haus kurz stehen geblieben und hatte sich noch einmal umgedreht. Er blickte hinauf zum Bergkamm, wo sich die ersten Schlammkegel über eine Krete weit oberhalb ihres Abhangs wälzten. Sein Herz raste und gleichzeitig schlugen in seinem Hirn sämtliche Alarmglocken an. Er musste fort! Er setzte sich in Bewegung. Feine Aschepartikel drangen ihm in die Lungen ein. Er musste husten, doch er rannte weiter. Da oben waren seine Kinder und seine Frau... „María!“ Nur noch zwei Meter! Das schrille Pfeifen wurde zum Orkan, das Donnern zum Brüllen eines gefräßigen Tieres. Noch ein Meter! Sebastián konnte sie fassen. Er riss sie an den Schultern in die Höhe und zerrte sie weiter. „Corre, María, lauf!“, keuchte er, hustete wieder. Diese verdammte Raucherlunge! Sie drohte seinen Brustkorb zu sprengen. Nur nicht aufgeben! „Wir müssen weiter!“ Lozano riss sich zusammen. Nur nicht schwach werden! Nur jetzt nicht!

   Die drei hetzten hangaufwärts. Wo waren die Kinder? Sie konnten nichts mehr sehen. Der Himmel war von einer schwarzen Rußwolke verdeckt, die sämtliches Licht verschluckte. Die Lawine passierte einen weiteren Hügelkamm, wurde dann rasch breiter und schneller und nahm fast die gesamte Breite des kleinen Tales ein. Meterhoch überschlug sich die Schlammwalze auf dem Weg nach unten. Alles, was ihr in den Weg kam, verleibte sie sich ein, knickte auch starke Bäume, verschob Erdreich und Geröll, tötete Menschen und Tiere. Sie überflutete auch den Hang, auf dem die Lozanos Zuflucht suchten. Der Lärm war infernalisch.

   Fabián war fast oben, hatte den Fuß des Berges fast erreicht. Trotzdem bekam er die Wucht der Lawine am Rande noch zu spüren. Ein großer Baum wurde vom hier weniger heftigen Strom mitgerissen; seine weitausladenden Äste ragten teilweise noch aus dem Schlamm. Fabián sah den Baum auf sich zuschießen. Reflexartig versuchte er sich mit einem Sprung zur Seite zu retten. Zweige schlugen in sein Gesicht. Er spürte, wie die Haut aufplatzte und das Blut heiß und klebrig über sein Gesicht rann. Dann geriet sein rechter Fuß in das Gewirr der Äste. Die Beine wurden ihm mit einer Wucht unter dem Leib fortgerissen, der er nichts entgegenzusetzen hatte. Hart schlug er am Boden auf. Halb besinnungslos merkte er noch, dass er mitgeschleppt wurde. Die Kleider gingen durch die rasante Talfahrt in Fetzen, doch eigenartigerweise tat ihm nur sein Knöchel höllisch weh. Wie ein Blitz fuhr es ihm durch den Kopf: Das ist das Ende! Danach wusste er nichts mehr.

   Plötzlich war die Lawine da. Sie sahen sie nicht, aber sie hörten sie. Die Kinder wurden als erste von ihr überrascht. Durch das Tosen und Brausen gellten ihre schrillen Schreie, drangen den Eltern durch Mark und Bein. 

Als sie abrupt abbrachen, wurde der Tod ihrer Kinder zur fatalen Gewissheit. María zitterte. Ihr leises Weinen ging in ein angstvolles Wimmern über. Sie begriffen beide, dass sie verloren waren. Keuchend blieben sie stehen. Es würde nur noch Sekunden dauern! Sebastián presste Frau und Kind an sich. Es hatte keinen Sinn weiterzulaufen. „Wir werden uns wiedersehen, querida - vielleicht in einer besseren Welt.“ Seine Stimme klang heiser als er versuchte, ihr die Angst vor dem Tod etwas zu nehmen. María presste ihren Kopf an seine Schulter. „Ich liebe dich, María! Te quiero“, flüsterte er und küsste sie.

   Sie nickte nur. Sie konnte ihm nicht sagen, wie überwältigend ihre Gefühle für ihn waren. Sie fand vor Todesangst keine Worte. Sebastián verstand sie auch so. Ihre riesigen dunklen Augen sagten ihm alles. Er beugte sich schützend über sie und drückte sie mit sanfter Gewalt auf den Boden nieder. Er hoffte, damit die Wucht des Aufpralls ein wenig mildern zu können.

   Und die Lawine sprang sie an wie ein wildes Tier, gierig, brüllend. María schrie angstvoll auf.

   „Te quiero!“

   Dann war die Lawine über ihnen; die Familie Lozano hatte aufgehört zu existieren.

 

Der kurze heftige Stoß erschütterte das ganze Haus. Es war für ein Beben dieser Art nicht elastisch genug gebaut. Die dicken Mauern konnten die Bewegungen des Bodens nicht auffangen; die gefügten Quadersteine wurden auseinandergerissen, die Mauern bekamen immer breiter werdende Risse, ebenso die Decke. „Carlos!“, rief Maola warnend, als kleine Mörtelbrocken auf sie herabrieselten.

   Dieser spürte es und versuchte sie mit seinem Leib zu schützen, als die Decke brach. „Carlos, no!“ Sie erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder. In einer Staubwolke stürzten Teile der Mauer ein. Carlos fiel schwer auf sie‚ als ein Dachsparren ihn erschlug. Da verlor sie das Bewusstsein.

   Die Veranda zitterte, während die Wände von langen Rissen gespalten wurden und das Dach vibrierte. Pedro und Anita sahen sich angstvoll an. Dieser heftige Stoß... Was war das? „Der Ruiz!“, ächzte Pedro. Er begriff die Situation sofort, doch bevor er die Hand nach seiner Frau ausstrecken und sie in die Höhe reißen konnte, war es auch für sie zu spät. Die Mauern brachen und die Deckenbalken fielen mit ohrenbetäubendem Krachen auf die alten Menschen herab. Staub wallte auf, zerriss und legte sich wie ein Leichentuch über die erschlafften Körper des Ehepaares. Nach wenigen Augenblicken war es über dem verwüsteten Garten und der Hausruine wieder so friedlich wie zuvor.

   Maola erwachte aus ihrer kurzen Ohnmacht. Schmerzhaft drang in ihr Bewusstsein, was sich in den vergangenen Minuten abgespielt hatte. Carlos! Sie fühlte seinen schweren Körper über sich. „Carlos!“ Tränen der Verzweiflung traten ihr in die verklebten, brennenden Augen. Als sie ihn an den Schultern berührte, rann Blut über ihre Finger. Sie erkannte mit Schrecken, dass der geliebte Mann tot war. Und auch, dass er ihr Schutzschild gewesen war und sie mit seinem Leben vor dem Tod bewahrt hatte. „Mi tesoro!“ Maola schluchzte. Ihre Beine waren taub von dem schweren Gebälk, unter dem sie eingeklemmt waren. Maola fühlte keinen Schmerz, nur das Herz drohte ihr zu versagen. Warum ausgerechnet er? Warum konnte nicht sie tot sein und er leben? Vorsichtig bewegte sie die Arme und stellte fest, dass sie frei und offenbar unverletzt waren. Als sie das Gesicht von Carlos wegdrehte, sah sie durch das Loch im Dach, dass sich der Himmel verdunkelt hatte. Da hörte sie das Rauschen von Wasser.

   Wasser? Maola Rubio lauschte angestrengt und beunruhigt. Woher kam dieses Geräusch? Der Fluß war zu weit entfernt, als dass man ihn hätte hören können. Woher also...? Ich muss hier raus! Maola versuchte sich unter Carlos’ leblosem Körper hervorzuschieben. Er war schwer, schwerer als sie gedacht hatte, obwohl die meisten Trümmer weggerutscht waren. Ihre Befreiungsversuche endeten kläglich. Sie spürte, wie ihre Kräfte nachließen und hörte, wie das Rauschen immer lauter wurde. Wie nah war es? Würde sie jetzt jämmerlich ertrinken?

   „Carlos, lieber wäre ich tot!“ Schluchzen schüttelte ihren Körper. Wie schnell hatte sich die ganze Welt um sie herum verändert! Warum musste alles so abrupt und grausam enden? Maola mobilisierte ihre letzten Kräfte und schließlich gelang es ihr nach mehreren Versuchen, sich von Carlos zu befreien. Sanft berührte sie seine Lippen. „0 Carlos!“ Eine Schmerzwelle durchfuhr sie, die ihr neue Tränen in die Augen trieb. „Ich werde dich immer lieben“, flüsterte sie.

   Das Rauschen riss sie aus ihren Erinnerungen in die Wirklichkeit zurück. Das Wasser! Maola konnte kaum etwas sehen. Sie spürte plötzlich den matschigen Brei, der sie umfloss. Sie versuchte sich aufzusetzen, um sich zu befreien, musste aber kläglich einsehen, dass ihre Unterschenkel so unter einem Balken und Gemäuer eingeklemmt waren, dass sie nie aus eigener Kraft freikommen würde. Das ist das Ende! Ihr Herz stand fast still. Hatte sie kurz zuvor noch den Tod herbeigewünscht, so fühlte sie nun einen unbändigen Drang zu überleben. Díos, ich will noch nicht sterben! Sterben... Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, nur das eine Wort dröhnte in ihrem Schädel. Maola spürte, wie sich der Druck des nachdrängenden Schlamms verstärkte. Sie schrie hysterisch auf. Es verklang ungehört.

   Der Balken! Der Gedanke peitschte sie hoch, sie hörte auf zu schreien, versuchte klar zu denken. Vielleicht eine Chance, ein Hoffnungsschimmer? Ihre Finger krallten sich in das Holz und suchten Halt, während die schlammige Brühe weiter anstieg. Spitze Splitter rissen ihre Haut auf und Fingernägel brachen ab. Ungeachtet der Schmerzen zog sie sich an dem Sparren in die Höhe. Der Schlamm stieg immer weiter. Sie spürte die Gewalt, mit der er Geäst, Hausrattrümmer und Steine gegen ihren Rücken schob. Wie lange denn noch? Wann hörte dieser grässliche Alptraum endlich auf? Die Last auf ihren Beinen wurde um einige Zentimeter verschoben. Der Schmerz raubte ihr fast die Besinnung. „Díos mío! Ayúdame! So hilf mir doch!“, schrie sie.

   Plötzlich stieg der Schlamm nicht mehr. Tränen der Erleichterung und Freude übermannten sie, dass sie noch lebte, wahrscheinlich als einzige der ganzen Familie überlebt hatte. Ob der Alptraum tatsächlich zu Ende war? Sie zitterte vor Erschöpfung und Schmerzen. Ihre Kräfte erlahmten, die Finger verloren den Halt und rutschten ab. Sie war schon besinnungslos, als sie bis zum Hals in den Morast eintauchte. Nur der Kopf ragte heraus, gestützt von dem angeschwemmten Zeug unter ihr.

 

Fabiàn stöhnte leise, als er sich aufsetzte. Sein Körper war zerschunden und schmerzte überall. Im Osten dämmerte es langsam. Um ihn herum war der Boden mit Asche bedeckt. An an der Stelle, wo bis vor wenigen Stunden ihr Haus gestanden hatte - war nichts mehr. Die anderen... Fabiàn begann zu weinen. Sie waren noch nicht so weit oben gewesen, als die Lawine sie überrollt haben musste. Er fühlte sich allein und von aller Welt verlassen. Innerhalb weniger Minuten hatte er alle verloren, die ihm lieb waren. Abwesend streichelte er den Hund, der ihm winselnd um die Beine strich. 

  Trotz des schmerzenden Knöchels rappelte er sich vorsichtig hoch. Beim Auftreten stach es ihn ganz fürchterlich, doch Fabiàn versuchte, an etwas anderes zu denken. Er wollte zurück unter Leute, hinunter ins Tal, wo er vor den wilden Hunden in Sicherheit war. „Vamonos, Pedro." Entschlossen machte er sich, wenngleich mit Tränen in den Augen, an den beschwerlichen Abstieg, auch wenn jeder Schritt ihn peinigte.

    Pedro suchte sich seinen eigenen Weg. Obwohl ihn sein Instinkt vor dem tückischen Boden warnte, war der Wunsch, dem Buben zu folgen, größer. Mit hoch in die Luft gerecktem Schwanz kletterte er im Zickzack zwischen Zweigen, Astgewirr und Morastaufschüttungen herum. Manchmal blieb er vor einem unüberwindlich scheinenden Hindernis oder bodenlosen Ungewissen stehen, tappte unruhig davor herum, winselnd, manchmal bellte er vor lauter Wut darüber, dass er dem Herrchen nicht einfach so im Gottvertrauen folgen konnte. Doch immer wieder fand er einen Umweg oder einen kleinen Fels, einen dickeren Ast oder Baumstamm, auf den er springen und seinen Weg zu Fabián fortsetzen konnte.

   Sie waren schon eine lange Weile unterwegs und hatten knapp die Hälfte des Weges bis zu Fabiáns verschwundenem Haus zurückgelegt. Trotz seines gebrochenen Knöchels gab der Junge ein erstaunliches Marschtempo vor und Pedro lag noch immer im Hintertreffen. Der Abhang war hier nun etwas weniger steil, doch er war mit Felsen und verwitterten Baumstrünken aus alter Zeit gespickt gewesen, die Morast und Unrat abgebremst und zu einer höheren Aufschüttung geführt hatten. Entsprechend war der Hang noch bodenloser und der Weg noch gefährlicher. Doch darauf achtete Fabián nicht. Er war so tränenblind und dumpf vor Schmerzen, dass er nur seinen eigenen Weg erkennen konnte. Überall dort, wo er sich herüberhangeln, festhalten und klettern konnte, schien es ihm ein guter Weg zu sein. Zum Glück war er stark und von guter Konstitution, so konnte er dank seiner Arme, mit denen er seinen Körper von Ast zu Ast hievte oder sich daran weiter vorwärts zog, seinen anschwellenden Knöchel immer wieder etwas entlasten. Nur ab und zu blickte er sich nach Pedro um, lockte ihn, rief: „Vamonos, Pedro!“ und ging weiter.

   Unversehens blieb der Hund erneut vor einem unüberwindlich scheinenden, bodenlosen Nichts stehen. Sein Instinkt warnte ihn vor dem Weitergehen, doch sein Wunsch, dem Buben zu folgen, zwang das domestizierte, anhängliche Tier weiter und dazu, seine natürliche Spürnase für Gefahr zu ignorieren. Fast erleichtert bemerkte er etwas weiter oben einen tellergroßen Stein. Er bellte, um Fabián mitzuteilen: „Ich komme“ und setzte fast aus dem Stand zum Sprung an. Doch die Distanz war um eine Kleinigkeit zu groß oder der Absprung zuwenig kräftig.

   Nur mit den Vorderläufen setzte Pedro auf dem Stein auf. Rasch zog er die Hinterbeine unter den Bauch, um sie abzusetzen. Doch sein sicher geglaubter Landeplatz begann zu wanken, neigte sich. Die Hinterläufe klatschten entsprechend daneben in den Morast. Pedro jaulte auf vor Angst, er spürte bereits den bodenlosen Untergrund und den Sog, der ihn an seinen Beinen in die Tiefe zog. Intuitiv warf er seinen Kopf nach vorn, doch alles nützte nichts. Sein Landeplatz kippte, er fand keinen Halt mehr. Der Hund rutschte vom nassen Stein und fiel halb rücklings in den Sumpf.

Sein langgezogenes, lautes Heulen ließ Fabián innehalten. Keuchend drehte der Junge sich um und schaute zurück. Mit jähem Entsetzen erkannte er die Lage, sah, wie der Hund strampelnd gegen den Morast ankämpfte und dennoch immer tiefer sank. „Pedro!“ Der gellende Schrei widerhallte als Echo von den nahen Bergen. „Pedro, no! Halt still! Nicht zappeln!“

   Er kehrte eilends um, kletterte hastig über einen umgestürzten, dicht belaubten Baum, dachte nur immer wieder, dass er jetzt nicht ausgleiten, nicht stürzen und vor allem nicht an seinen Fuß denken durfte. Er hätte nicht zu sagen vermocht, ob es sein Herz war, das mehr schmerzte vor Angst, erneut verlassen zu werden, oder ob es doch eher sein Bein war. Doch er ignorierte es. Pedro war der Einzige, der ihm von seiner Familie geblieben war! Er konnte ihn jetzt nicht im Stich lassen!

   Das durchdringende Jaulen des Hundes war fürchterlich. Fabián stellten sich die Nackenhaare auf. Es brach nicht mehr ab, wurde lauter und ohren-betäubender. Natürlich hielt er nicht still oder ergab sich in sein Schicksal, womit er dem Jungen länger Zeit verschafft hätte. Durch sein Zappeln warf er sich dem Tod in die Arme.

   Fabián hetzte hangaufwärts. Es waren nur ein paar Dutzend Meter, doch sie erschienen ihm endlos. Er stolperte, schürfte sich Knie und Hände auf. Pedro, halte aus, ich komme...! Zum Schreien hatte er keine Kraft mehr.

   Doch er kam zu spät. Nur der spitze Schädel des Tieres ragte noch aus dem Morast. Fabián blieb wie vom Schlag gerührt stehen und ließ die Arme hängen. Es gab nichts mehr, das er packen und an dem er Pedro hätte herausziehen können. Ein saugendes, schmatzendes Geräusch entstand, als auch der Kopf langsam versank, dann verschwand auch dieser. Nur noch die Schnauze ragte einen kurzen Moment länger aus dem Sumpf heraus. Ein letztes, durchdringendes Heulen drang aus Pedros Kehle, riss abrupt ab und vor den Augen des Buben verschwand der Hund. Zurück blieb ein kurzes Blubbern an der Oberfläche - der Schlamm hatte ein neues Opfer gefunden.

   Lähmende Stille trat ein. Fabiáns Kehle wurde eng. Er würgte. Tränen der Verzweiflung röteten seine Augen. Der letzte der Familie... verschwunden! Tot! Mutlos sank er nieder, wo er stand. Ein einziger heiserer Schrei entrang sich ihm endlich, dann wimmerte er nur noch. Pedro! Armer Pedro! Armer Fabián!

   Erst viel später vermochte er sich vom Unglücksort loszureißen. Völlig niedergeschlagen und mutlos machte er sich wieder auf den Weg, obwohl sein Fuß jetzt noch stärker schmerzte, diesmal noch viel langsamer und mit dem Wunsch aufzugeben im Genick. Doch noch wollte er zu Menschen, wollte spüren, dass noch nicht alles tot war. „Gran Díos, ayúdame, por favor!“, flüsterte er dann wenn ihn der Mut fast ganz verließ, und er fand immer wieder die Kraft, um durchzuhalten. Nach einem endlos langen Fußmarsch hatte er es endlich geschafft: Er stand vor einem Sanitätszelt in Guayabal und blieb einen Augenblick erschöpft in der Hitze stehen.

 

Ingrid Peters konnte es kaum erwarten, dass die ziellos scheinende Busfahrt zu Ende war und sie mit der Arbeit beginnen konnte. Der Bus war ein altertümliches Modell, dessen Fahrtauglichkeit mehr als zweifelhaft war. Aber mit seinen abblätternden roten, blauen und gelben Farben stach er auf den schmalen Urwaldstraßen wie ein bunter Papagei aus dem monotonen Grün heraus. Die mittägliche Hitze machte der jungen Krankenschwester nur wenig aus. Es war nicht das erste Mal, dass sie an einem Katastropheneinsatz teilnahm. Ihr waren Krankheiten und Tod nichts Neues und sie versuchte zu helfen, soweit es ihr möglich war. Sie war eine große, schlanke Frau, deren Gesicht mit der weißen, zarten Haut und den vollen Lippen weich und verführerisch wirkte. Die blauen Augen hingegen zeugten von Durchsetzungsvermögen und Willensstärke.

   Der Bus folgte von Méndez her dem geschwungenen Lauf des Río Sabbandija nach Guayabal, das zwischen Mariquita und Armero liegt. Ingrid schwitzte in ihrer hochgeschlossenen Schwesterntracht; ihr blondes Haar im Nacken war feucht. Sie hielt ihre Gepäcktasche mit beiden Händen am Riemen gepackt auf ihrem Schoß und betrachtete die Landschaft. Die Straße war ausgefahren und voller Schlaglöcher, die der einheimische Fahrer mit großem Geschick im Zickzackkurs umfuhr. Immer wieder überkam Ingrid das bange Gefühl, sie würden im nächsten Augenblick gegen einen Felsen krachen oder auf der anderen Seite in die steil abfallende Tiefe des Urwalds stürzen.

Unter den 20 Passagieren wollte kein rechtes Gespräch aufkommen. Die 17 Krankenschwestern, für die am schlimmsten betroffene Stadt Armero eingeteilt, hatten genug mit sich selbst zu tun. Die meisten kannten sich nicht einmal und versuchten so gut es ging noch ein wenig zu schlafen oder sich auf ihre Arbeit vorzubereiten. Die beiden Pfleger im hinteren Teil schnarchten friedlich. Keiner wusste, wie ihnen das bei solchem Geholper und dem Dröhnen des Motors gelang. Der dritte Schlafende war ein junger Arzt, der zu seinem ersten Einsatz unterwegs war. Er war groß und hager, mit langen Beinen, für die er zwischen den Sitzen kaum Platz fand. Das dunkle Haar trug er in einem Bürstenschnitt, unter dem das mit dunklem Flaum bedeckte Gesicht ihn noch jünger wirken ließ, als er ohnehin war.

   Der bunte Bus nahm die letzten Biegungen hinunter nach Guayabal in Angriff. Es war ein kleines Dorf im Stil der spanischen Architektur. Während der Nacht war hier eine einfache Sanitätsstelle eingerichtet worden, um den Vulkanopfern wenigstens Erste Hilfe leisten zu können. Mit quietschenden Bremsen und stotterndem Motor, der wohl nächstens auseinanderfallen würde und den Insassen zusätzlich einen gehörigen Schrecken einjagte, rutschte und schlitterte der Bus auf dem steilen Straßenstück in die Tiefe.

   Fabián sah ihn schon von weitem. Er wartete inzwischen bereits fünf Minuten, ohne sich von der Stelle gerührt zu haben. Erst das freudige Kreischen der Dorfkinder und der Lärm des sich nähernden Fahrzeuges veranlassten eine der französischen Ordensschwestern, aus dem Sanitätszelt zu treten. Ihr erster Blick galt Fabián, der zweite dem Bus, dann sah sie wieder Fabián an und dessen geschwollenen, verfärbten Fuß und ihr Kiefer sackte herab. „Oh mein Gott!“ Sie war eine kleine mollige Frau, die ihm sofort Vertrauen einflößte, als sie mit offenen Armen auf ihn zueilte. Mit großen Augen blickte er zu ihr hoch und versuchte den Schmerz in seinem wie Feuer brennenden Fuß weiterhin zu ignorieren.

   „Komm herein, mein Junge“, sagte sie freundlich, stützte ihn unter den Achseln und führte den Humpelnden ins Sanitätszelt. Schwester Agathe war Anfang fünfzig. Sie hatte silbergraues, langes Haar, das sie im Nacken geknotet und hochgesteckt trug. „Setz dich hin“, sagte sie gutmütig und drückte ihn sanft auf einen stoffbezogenen Klappstuhl mit Armlehnen nieder, dann wandte sie sich um und holte aus dem Versorgungsschrank, was sie zur Behandlung der Wunden brauchte.

   Fabián wartete geduldig. Seine Arme lagen halb entspannt auf den plastilinen Lehnen, halb saßund halb lag er in dem für sein momentanes Empfinden recht bequemen Stuhl. Er war todmüde und wäre am liebsten sofort eingeschlafen, hätten ihn die pochenden Schmerzen nicht wachgehalten.

   Mit lautem Geratter und eine Staubwolke hinter sich herziehend, fuhr der Bus ins Dorf und hielt dicht vor dem Zelt an, da die beiden Pfleger für diese Station bestimmt waren. Während der einheimische Fahrer ihnen ihre Koffer vom Wagendach hinunterwarf, nutzten die Frauen und der andere Arzt die Pause, um sich ein wenig die Beine zu vertreten.

   Schwester Agathe kehrte zu Fabián zurück. Sie setzte sich ihm gegenüber auf einen Klappstuhl und beugte sich eben vor, um seine Wunden zu versorgen, als Ingrid, von Neugier getrieben im Sanitätszelt erschien. „Cómo te llamas,chaval? Wie heisst du, mein Junge?“, fragte Schwester Agathe, ohne sich ablenken zu lassen.

   „Fabián“, war die schüchterne Antwort. Er sprach so leise, dass beide Frauen Mühe hatten, ihn zu verstehen. Der Blick seiner dunklen Augen hing hoffnungsvoll an Agathes freundlichem Gesicht. „Und weiter?“, fragte sie während sie kurz aufschaute, um den Besuch in Augenschein zu nehmen.

   „Lozano.“

   Schwester Agathe nickte der jungen Frau freundlich zu, und Ingrid erwiderte das Nicken. „Woher kommst du? Wohnst du hier in der Nähe?“

   Fabián schüttelte den Kopf. Sein Gesicht verzog sich vor Schmerzen zu einer Grimasse. Obwohl zu Härte erzogen, war es ihm nicht möglich, sich vor den beiden zu beherrschen. Tränen traten ihm in die Augen und kullerten über seine verdreckten und geschwollenen Wangen.

Schwester Agathe sah ihn mitleidig an. Auch Ingrid, die näher trat, spürte, dass die Frage ihn empfindlich getroffen hatte. Trotzdem hatte der Junge das dringende Bedürfnis, sich jemandem anzuvertrauen und der Schwester von seinem Kummer zu erzählen. Kaum hörbar und mit zittriger Stimme berichtete er: „Wir haben über vier Stunden von hier gewohnt, bis die riesige Lawine... Meine ganze Familie ist weg, auch die Tiere. Tot...alle, die ich geliebt habe, sind wohl tot.“

   „Armer Junge“, flüsterte Ingrid halblaut. Ihr Herz und ihre Miene zogen sich mitleidig zusammen.

   „Und du bist vier Stunden mit deinem schmerzenden Fußbis hierher gelaufen?“, bohrte Agathe mit ungläubigem Stirnrunzeln weiter. Der Bub nickte und wischte sich mit dem Handrücken über die geröteten Augen. Er stöhnte auf, als sie, um die Wunden zu reinigen, seine Beine mit einem brennenden Desinfektionsmittel behandelte. Agathe hatte den Eindruck, dass er sich seiner Tränen schämte. Während sie redete um ihn abzulenken behandelte sie seine Schrammen im Gesicht und an seinem Körper.

 Fabián ließ alles über sich ergehen. Wortlos nahm er auch die Schmerzmittel, die sie ihm mit etwas Wasser einflößte. Wer würde wohl künftig zu ihm schauen?  

   Ingrid Peters, die sich bis dahin diskret zurückgehalten hatte, sprach aus, was auch den Buben beschäftigte: „Was wird denn nun mit ihm geschehen?“

   Schwester Agathe zuckte die Achseln und antwortete ohne sich umzusehen, während sie seine Wunden zupflasterte und zuletzt das Bein notdürftig einbandagierte: „Was weiß ich? Wahrscheinlich wird man ihn irgendwo in ein Waisenheim stecken, bis er alt genug ist. Dann wird man ihn wegschicken und er wird um seine Existenz kämpfen müssen, weil er keine Möglichkeit haben dürfte, einen anständigen Beruf zu erlernen. Wie so viele wird er sich vermutlich einer Jugendbande anschließen und straffällig werden.“

   „Wie kann Sie das Schicksal dieses Kindes so kalt lassen?“, fragte Ingrid mit wütendem Stirnrunzeln vorwurfsvoll.

   Agathe wandte sich nun doch um und zeigte ein bedauerndes Lächeln. „Ma chère, was sollte ich dagegen tun? Ich kann den Lauf der Dinge nicht aufhalten. Ich arbeite heute hier und morgen dort. Ich sehe zu vieles, was mir nicht gefällt und habe keine Möglichkeit, es zu ändern.“

   Ingrid musste nicht lange überlegen. „Ich verdiene genug, um ein Waisenkind bei mir aufzunehmen. - Lassen Sie Fabián mit mir gehen und ich sorge dafür, dass er zumindest kein Krimineller wird!“

   Die alte Frau schüttelte ablehnend den Kopf. „Diese Entscheidung sollten Sie nicht leichtfertig fällen, und Sie sollten ihm keine Hoffnungen machen, die Sie möglicherweise nicht erfüllen können.“

   „Da haben Sie recht.“ Ingrid nickte heftig. „Aber in Armero wird es genug Platz für ihn geben. Dort kann ich seinen Fuß auch behandeln. Das wird uns Gelegenheit geben, einander näher kennenzulernen.“

   „Sie wissen nicht, worauf Sie sich einlassen. Sie sollten sich da besser raushalten!“

   Doch die gutgemeinten Ratschläge prallten an Ingrids Sturheit ab. Sie hatte es sich nun mal in den Sinn gesetzt und war felsenfest von der Richtigkeit ihrer Absicht überzeugt. Entschieden schüttelte sie den Kopf. „Sie können mich nicht davon abbringen!“ Sie kniete sich vor Fabián nieder und sagte in gebrochenem Spanisch: „Wenn du möchtest, kannst du mit mir nach Armero fahren. Dort können wir uns besser kennenlernen und vielleicht sogar Freunde werden.“

   Der Junge blickte sie mit einem gleichmütigen Ausdruck in Gesicht und Augen an und zuckte fast mechanisch die Achseln. „Es ist egal, ob Sie mich mitnehmen oder hierlassen. Ich habe niemanden mehr, der auf mich wartet.“

   Dass er sich nicht darüber freute, wie sie erwartet hatte, irritierte und traf sie nun doch. Heftiger als vorgesehen, brach es aus ihr heraus: „Aber mir ist es nicht egal, wo du bist und was aus dir wird!“

   Sie sah, dass er vor ihr und ihrer Reaktion fast erschrak. Ingrid zögerte einen Moment und erklärte dann freundlich: „Ich würde gern für dich sorgen, Fabián."

   Der Bub blickte sie an und meinte: „Es ist unwichtig, ob ich hier oder anderswo bin. Aber wenn Sie es gern möchten, señora, werde ich mit Ihnen nach Armero fahren."

   Ingrid erhob sich. An Agathe gewandt, fragte sie: „Warum ist er so verschlossen?“

   Diese zuckte nichtssagend die Achseln. „Es ist die Art der Kolumbier. Er hat alles verloren und will Ihnen lediglich eine Freude machen.“

  „Kann ich im Bus schlafen, señora?", fragte Fabián, der nur noch schlafen wollte, um die Schmerzen und die schrecklichen Erlebnisse zu vergessen. Er hatte kein Interesse an den fremden Leuten, er verstand ja nicht einmal ihre Sprache.

   Draußen hupte der Bus. Ingrid Peters drehte kurz den Kopf danach um, sah wieder den Jungen an und nickte. „Ich werde dir ein Lager zurechtmachen“, lächelte sie.    

   Kurze Zeit später waren sie gemeinsam unterwegs.

   Der Bus holperte dem Río Guamo entlang nach Armero. Fabián lag quer über zwei Sitzen, den Kopf auf Ingrids Schoß gebettet. Die junge Frau lächelte, glücklich darüber, dass sie sich durchgesetzt und Fabián dank ihrer Hilfe ein normales Leben vor sich hatte. Sie hatte sein Bein an der Rückenlehne hochgebunden, damit die Schwellung besser abklingen konnte. Die Medikamente begannen langsam zu wirken. Er fühlte, wie der stechende Schmerz nachließ, das Hämmern in seinem Kopf aufhörte und er so müde wurde, dass er unter dem beruhigenden Streicheln der jungen Frau schließlich einschlief.

 

Auf einer Bahre wurde soeben ein Mann herangetragen. Er war über und über schmutz- und schlammverkrustet und mit blutigem Schorf bedeckt. Sein ganzer Körper schien zerschunden, die Haare waren verklebt und die Augen verätzt. Als die Träger an André vorübereilten, drang ein gequältes Stöhnen aus seinem Mund. Die Lippen waren aufgeplatzt und schrundig ausgetrocknet. Augenblicke später waren die Männer in einem der größeren Zelte verschwunden. Pierre blickte ihnen nach, bevor er etwas langsamer, aber doch mit schnellen Schritten folgte. Beim Anblick dieses Mannes wurde ihm mit deutlicher Klarheit bewusst, was ihn in den nächsten Tagen und vielleicht Wochen erwartete.

   Er betrat das lange Zelt, das wie in Lérida aus einem einzigen, großen Raum bestand, der durch die in zwei Reihen verlaufenden, abstützenden Metallträger jedoch in drei aufgeteilt schien und nicht nur als Krankenstation, sondern auch als Festzelt hätte dienen können. In dessen Innern war es heiß und stickig, obwohl die Vorder- und die Rückseite hochgerollt und offen waren. Aber kaum ein Lüftchen regte sich, es schien, als halte die Natur noch immer den Atem an. Es stank nach Äther, süßlich nach frischem Blut - und nach Tod. Ein leichter Leichengeruch lag in der Luft, ob von drinnen oder draußen, er konnte es nicht sagen.

André blieb nach ein paar Schritten stehen und blickte sich prüfend um. Noch war niemand auf ihn aufmerksam geworden. Menschen in weißen und orangen Kitteln, andere blutend und halbnackt, verschmutzt und in zerflederten Lumpen, wuselten wie Ameisen durcheinander. In drei langen Bettreihen waren Feldbetten und Matratzen aufgereiht und bereits mit geborgenen Opfern überfüllt. Wieder lag das lärmende Schwirren eines Hubschraubers in der Luft, der ein paar für den Transport vorbereitete Verwundete wegbrachte, und dennoch wurden es immer mehr statt weniger. Zwischen den Betten bewegten sich Schwestern, Hilfen und ein halbes Dutzend Assistenzärzte, die versuchten, sich im Gewusel der Menschen einen Weg zu bahnen.

   André trat weiter in das Zelt hinein, musste sich selbst an noch im Stehen oder Sitzen wartenden Verwundeten vorbeischieben. Weiter hinten bemühten sich vier Frauen mit aller Vorsicht, ein neues Opfer zu säubern, andere wechselten Verbände oder verabreichten Spritzen und Medikamente. Einer der dunkelhaarigen Assistenzärzte war dabei, einem kleinen Jungen eine Schramme in der Kopfhaut zu vernähen. Etwas abseits, durch einen Paravent gegen die Blicke der Patienten abgeschirmt, sah Pierre einen dunkelhäutigen Arzt, der ein halb abgerissenes Bein amputierte. Er blieb stehen und beobachtete. Ein rothaariger Pfleger stand daneben, hielt fest und hielt wenig später den abgetrennten Unterschenkel in beiden Händen. Kreidebleich wie ein Laken war er nahe daran, an Ort und Stelle auf den Boden zu kotzen.

   André drehte sich um, um weiterzugehen und ließ den Blick erneut durchs Zelt und die Menschenansammlungen gleiten. „Guten Tag, Doktor.“ Eine sanfte, melodische Frauenstimme riss ihn aus seinen Beobachtungen.

   André blickte über die Schulter zurück. Hinter ihm stand eine große, blonde Frau in einer hochgeschlossenen, kurzärmeligen grauen Schwesterntracht und einer weißen, bis über ihren kleinen Busen reichenden Schürze mit breiten Bändern. Das erste was ihm an ihr auffiel, als er sich ganz umdrehte, waren ihre unnatürlich großen blauen Augen. Sie waren wie zwei tiefe Seen, in denen sich ein Mann verlieren könnte. Als wüsste sie das, huschte ein flüchtiges Lächeln über ihren sinnlichen Mund. Sie legte das blutige Verbandszeug auf ein in der Nähe stehendes Tischchen, wischte die schmutzigen Hände an der Schürze ab und streckte ihm die Rechte entgegen. „Ich bin Schwester Ingrid“, sagte sie.

   „Pierre André.“ Er drückte ihre Hand und war erstaunt, wie fest sie seinen Druck erwiderte. Sie nickte. „Wir hatten Sie bereits heute Morgen erwartet. - Kommen Sie, ich stelle Ihnen unseren Stationsarzt vor.“ Sie drehte sich unmissverständlich um.

   Pierre war verblüfft über ihre Selbstsicherheit, die so gar nicht zu der Weichheit ihres Gesichts und zur Anschmiegsamkeit passte, die ihr Körper ausstrahlte. Er folgte ihr zurück zum Paravent, wo Dr. Raimundo Jordán soeben die letzten Stiche machte, mit denen er die Blutgefäße am Beinstumpf vernähte. Als André neben Schwester Ingrid zu ihm trat, übergab er den Patienten dem blassen Pfleger, in dessen Wangen langsam wieder etwas Farbe zurückkehrte und erhob sich. Erschöpft musterte er den Franzosen, während er seine blutigen Gummihandschuhe von den Händen streifte. Eine herbeieilende Hilfe nahm sie ihm ab, um sie zu entsorgen. 

„Buenas tardes. Ich schätze, Sie sind der Franzose Pierre André? - Ich bin Kolumbier, habe aber in den Staaten studiert.“ Er rieb sich den Schweißund die Mehlkrümel, die in den Handschuhen entstanden waren, an dem Tuch ab, das sie ihm reichte.

   „Dr. Raimundo Jordán“, stellte Ingrid Peters kurz vor, ehe sie die Männer allein ließ und im Mittelgang des Zeltes verschwand. „Freut mich, Sie kennenzulernen.“ André streckte ihm die Rechte zum Gruß entgegen.

   Jordán nickte und schlug ein. „Ganz meinerseits. Ich schätze wir werden uns gut vertragen." Die beiden schüttelten sich die Hände. Jordán nickte ihm zu, während der Paravent von emsigen Hilfen entfernt, woanders hingebracht und installiert wurde. Das flache Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der etwas zu breiten Nase schien müde und die Hautfarbe etwas fahl. „Ich bin froh, dass Sie hier sind. Sie wurden uns bereits für heute Morgen angekündigt. Was hat Sie aufgehalten?"

   „Dreimal dürfen Sie raten.“

   „Gómez?“ Jordán sagte es mit einem Anflug von Abscheu.

   André nickte. „Er hat es sich anscheinend in den Kopf gesetzt, mir in den Arsch zu kriechen.“

   „Ich kenne ihn. Er ist mir nicht sympathisch, aber ich weiß nicht warum“, konstatierte der andere trocken.

   Plötzlich grinsten beide. „Kann ich Ihnen behilflich sein, Dr. Jordán?“, erkundigte er sich kollegial, indem Pierre unvermittelt das Thema wechselte. Dieser nickte. Sein Gesicht war schweißbedeckt. „Wenn Sie sich um den Neueingang kümmern wollen? Ich könnte eine kurze Pause brauchen. Seit heute Nacht arbeite ich ununterbrochen. Pausenlos bringen die Rettungsmannschaften neue Verwundete. Wir kommen kaum zurecht. An allen Ecken und Enden fehlt es uns an ausgebildetem Personal. Es ist wirklich gut, dass Sie hier sind. Vielleicht gelingt es Ihnen, etwas mehr Dampf in den Laden zu bringen.“

   André schmunzelte. „Ich werde mich immerhin bemühen, Ihnen etwas Arbeit abzunehmen.“ Er drehte sich um und ging, seinen Kollegen im Schlepptau, durch den Mittelgang weiter nach hinten und zum Waschtisch hinüber, wo die vier Frauen inzwischen den Verletzten soweit vom Dreck gesäubert hatten, dass er untersucht werden konnte. Sie machten ihm Platz, als er sich näherte.

   Ingrid Peters brachte ihm ein paar sterile Handschuhe, die er wortlos überstreifte, dann machte er sich sofort an die Arbeit. Ein einziger kurzer Blick brachte ihm genug Übersicht, um seine ersten Befehle zu erteilen: „Morphium und Beinzug, Schwester!" Diese nickte und ging hinüber zu einem kleinen, zwischen Mittelgang und Zeltwand mit Planen abgetrennten Raum, in dem sich der Medikamentenschrank und anderes Zubehör befanden.

Der Patient, es war derselbe, den er draußen gesehen hatte, war ein junger Mann, vielleicht 25 Jahre alt, aber jetzt sah er durch die Schrecken der letzten Nacht um Jahre gealtert aus. Vorsichtig wusch ihm Pierre mit einem Wattebausch und Wasser die geschwollenen und von roten Äderchen durchzogenen Augen aus, bevor er sich des Beins annahm. Auch ohne vorheriges Röntgen, wofür es hier sowieso keine Möglichkeit gab, war der unnatürlich abgewinkelten und verdrehten Lage des Schenkels anzusehen, dass es sich wahrscheinlich um einen komplizierten Knochenbruch handelte.

   Raimundo Jordán gesellte sich mit einer Tasse dampfenden Kaffees zu ihm und sah seinem Kollegen interessiert bei der Arbeit zu. „Wie konnte das Unglück bloß passieren?“, fragte der Franzose, während er dem Mann den Stauschlauch um den Oberarm bis ans Maximum zuzog.

   „No lo sé.” Jordán zuckte die Achseln und nagte an seiner Unterlippe.

   André setzte die Nadelspitze in der kurz mit einem Wattebausch desinfizierten Ellbogenbeuge auf, drückte durch die Haut und stieß das Venflon gekonnt in die Vene, um das Narkotikum zu injizieren.

„Ich weiß auch nicht, ob ich die Zusammenhänge richtig interpretiere, wenn ich behaupte, dass die Bevölkerung unzureichend orientiert worden ist. Ich wohne in Bogotá und habe daher keine Ahnung vom Ausmaßder Katastrophe. Aber ich glaube, dass die vielen Toten Opfer der Fahrlässigkeit sind, dass man das Unglück vielleicht sogar hätte verhindern können.“

   „Den Ausbruch?“ André warf einen kurzen Blick über die Schulter auf Jordán zurück. Die beiden Männer waren etwa gleichaltrig, Mitte dreißig und gleich groß und einander auch im medizinisch technischen Wissen durchaus ebenbürtig.

   „Naturalmente que no.” Jordán schüttelte den Kopf, dass sein kurzgeschnittenes Haar im grellen Licht der Deckenbeleuchtung bläulich schimmerte. „Aber ich meine, dass mit gezielten Maßnahmen zumindest die Zahl der Opfer nicht so hoch geworden wäre.“

„Viele?"

   Raimundo nickte heftig. „Sí, demasiados, zu viele! Es dürften so zwischen 20- und 30’000 sein. Soviel ich weiß, lebten in diesem kleinen Gebiet rund 45’000 Menschen. Auf dem fruchtbaren Lavaboden hat Ackerbau rentiert. Bislang dachte ja auch niemand, dass der Schlafende Löwe wieder aufwachen würde.“

„Halten Sie ihn fest!“, wies André den hinzugetretenen, rothaarigen Pfleger an. Dieser trat hinter das Kopfteil der Pritsche, ging in die Hocke und schlang seine Arme unter den Achseln des verwundeten Mannes hindurch, um mit Gegenzug seinem Chef standzuhalten. „Der Schlafende Löwe?“, echote dieser mit hochgezogener Augenbraue, während er sich ans Bettende begab und dem Mann, der sich trotz des Morphiums unter Schmerzen wand, unter Zug das Bein in seine normale Lage zurückdrehte. Es knackte und knirschte, das Geräusch war grausam und drang ihnen durch Mark und Bein. Sobald es geschient und stabilisiert war, würde er zur genauen Abklärung in ein Krankenhaus überführt werden können.

     Jordán nickte. „Sí. So nennen die Einheimischen den Vulkan.“ Er stand scheinbar unbeteiligt daneben und genehmigte sich einen Schluck Kaffee, dann erkundigte er sich: „Haben Sie auf dem Weg hierher das Gebiet überflogen?“

   „Einen Teil davon.“ Beim zurückblickenden Nicken wurden die ersten Schweißperlen auf seiner Oberlippe sichtbar. Jordán bedeutete dem Pfleger mit einem Wink seines Kinns, den Beinzug des Patienten zu übernehmen. André machte dem jungen Mann Platz, und unter dem schreienden Aufbegehren und Aufbäumen des Verwundeten wechselten sie die Hände. 

   „Haben Sie Menschen gesehen?“

   Pierre schüttelte den Kopf. Er nahm Ingrid eine breite Watterolle ab, mit der er das vom Pfleger hochgehaltene Bein umwickelte. „Nein. Dafür flogen wir zu hoch.“

   „Hat Ihnen Gómez erzählt, wie’s hier draußen aussieht?“

   „Die Leute, meinen Sie? - Ja, er hat etwas angedeutet. Nur was für starke Nerven.“ André schaute kurz zurück. „Genau das waren seine Worte. - Mein Gott, ich habe es mir nicht so schlimm vorgestellt. Ich bin wirklich einiges gewöhnt, aber das hier übertrifft alles.“

   Schwester Ingrid reichte ihm zwei nasse Gipsrollen. Die eine legte er vor sich auf die Pritsche und begann mit der anderen mit geübten Griffen, das vom Pfleger hochgehaltene Bein trotz der massiven Schwellung und Blutergüssen einzugipsen, um den Splitterbruch für den Transport genügend stabilisieren zu können.

   „Wie sieht’s eigentlich mit den Rettungsarbeiten in den überfluteten Regionen aus?“, stellte André die Frage, die ihm am meisten auf der Zunge brannte, während er den zweiten, nassen Gipsverband zur Verstärkung abrollte.

   Er hörte Jordán in seinem Rücken seufzen. „Die Retter und Lawinenhunde versinken im Schlamm. Der Morast ist verdammt tückisch. Sie können des Nachts nur mit starken Scheinwerfern arbeiten - wenn überhaupt, damit sie sich nicht selbst gefährden.“

   „Und sonst?“

   „Alles, was Beine hat wurde mobilisiert, um im Katastrophengebiet mitzuhelfen. Da sämtliche Zufahrtsstraßen unter dem Schlamm begraben und die Brücken vom Hochwasser fortgerissen sind, funktionieren alle Transporte nur via Hubschrauber. Wenn Sie also von hier fort wollen, werden Sie sich einen Flug buchen müssen.“ Als auf seinen Witz und die eingelegte Kunstpause keine Reaktion erfolgte, fuhr er wieder ernsthaft fort: „Außerdem gibt es kein Trinkwasser mehr. Es darf nur noch abgekochtes getrunken werden.“

„Das habe ich erwartet“, nickte André und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Auch er war nach dieser kurzen Zeit schon in Schweiß gebadet. Völlig zusammenhanglos murmelte er: „Verdammt heiß hier drin. Ich bin dieses tropische Klima nicht mehr so gewöhnt.“

   Jordán grinste, aber mehr aus Verlegenheit. „Kaum zu glauben, dass wir Winter haben, was?“ Der Franzose war nicht der einzige dem die Hitze zu schaffen machte.

   „Aber, Jordán, die Katastrophe kam doch nicht völlig ohne Vorwarnung, oder?“

   „No." Der Kolumbier schüttelte den Kopf. „Wiedererwacht ist der Ruiz nach 104 Jahren schon im Dezember 84. Im September dieses Jahres wurden erste kleine Eruptionen beobachtet."

   „Dann ist er also seit Monaten leicht aktiv gewesen?“

   „Sí. Es hat sogar kleinere Erdbeben gegeben und sich in der Folge ein Kratersee gebildet. Es soll eine internationale Untersuchungskommission eingesetzt worden sein, von der man nie wieder etwas gehört hat. Aber die kleinen Vulkanausbrüche haben die Schneeschmelze vorangetrieben, so dass die Flüsse schon seit Monaten höher als üblich kamen. - Der Ruiz ist übrigens immer noch bedrohlich.“

   „Ich habe ihn vom Hubschrauber aus gesehen. Er war völlig von Wolken umhüllt, aber trotzdem imposant.“

Jordán nickte. „Sí. Wir müssen immer auf der Hut sein und mit einem neuerlichen Ausbruch rechnen. - Möglicherweise steht uns die eigentliche Eruption erst noch bevor.“

   „Da sei Gott vor!“ André ließ die Hände sinken. Er hatte seine Arbeit während dem Gespräch beendet und klebte nun das Gipsende fest. Er überlegte, dass hier Gipsverbände eigentlich ein Luxus waren. Vermutlich würden sie ihnen ohnehin schnell ausgehen, weil der Nachschub nicht klappte oder im Land schlichtweg das Material dafür fehlte. Eigentlich konnte er bei solchen Einsätzen nur wenig tun; Schmerzen lindern und Trostworte sprechen. Dennoch war seine Arbeit äußerst wertvoll. Jeder seiner Handgriffe konnte über Leben oder Tod entscheiden. Er wusste es und obwohl er seine Arbeit liebte, fürchtete er sich davor, einmal zu versagen.

   „Das war’s. Er wird es überleben“, murmelte er mit einem Blick auf den wimmernden Mann, während er die Handschuhe abstreifte. An den Pfleger gewandt, sagte er: „Achten Sie darauf, dass er keinen Spitzfuß kriegt. Und sobald der Gips trocken ist, schneiden Sie ihn auf, damit die Blutzirkulation nicht unterbrochen wird.“

   „Ja, Sir“, nickte der Rothaarige dienstbeflissen, der sich von der Anwesenheit und dem großen Namen dieses wichtigen Mannes doch ein wenig einschüchtern ließ.

   Schwester Ingrid trug bereits eine elektrische, an das kleine Notstromaggregat angeschlossene Gipssäge und zwei Verbandsrollen heran. Pierre kam nicht umhin, ihre Umsicht zu bewundern. Sie handelte selbständig und ohne Anweisungen, als könnte sie seine Gedanken lesen. Wahrscheinlicher aber war, dass sie aus Erfahrung jeden Handgriff auswendig kannte. Während ihr rothaariger Kollege weiterhin den Fuß im Schwitzkasten behielt, damit sich der vorgegebene Stellungswinkel nicht veränderte und sie darauf warten mussten, dass der Gips trocknete, wischte sie dem Patienten mit einem Tuch rasch den Schweiß von der Stirn, bevor sie sich anderweitiger Arbeit zuwandte. In ungefähr einer Viertelstunde würde er von zwei Männern des Flugdienstes abgeholt und mit anderen transportfähigen Verletzten in den Hubschrauber verladen werden.

   Draußen schrien ein paar Leute. Die beiden Männer drehten sich fast gleichzeitig nach dem Zelteingang um. Augenblicke später stürmten Helfer eilig mit einer Bahre herein, diesmal mit einem Kind. Es war so schwach, dass lediglich ein klägliches Wimmern durch seine aufgerissenen Lippen drang. André war jetzt voll und ganz bei der Sache. Im Laufschritt durchquerte er über den Mittelgang das Zelt, ließ Jordán und Schwester Ingrid einfach stehen.

   Es war ein zehnjähriger Bub, der da halbnackt vor ihm auf der Bahre lag. Sein magerer Körper steckte in Hemd und Hose, beides zerfetzt, und glühte vor Fieber. Trotz der Kleider konnte man sehen, dass der Junge übel zugerichtet war. Sein Brustkorb war eingedrückt, er röchelte und hustete Blut, seine Beine waren übersät mit Schnittwunden. Andrés Herz krampfte sich vor Mitleid zusammen. Mon Dieu, das arme Kind! Er nahm an, dass ihm kaum noch zu helfen war, doch eine genaue Diagnose würde erst eine eingehende Untersuchung bringen.

   Die schreckgeweiteten Augen, rot von den geplatzten Äderchen und mit weißem Schleim überzogen, sahen ihn an. Sofort verstummte das Wimmern und ein hoffnungsvolles Leuchten sprach aus seinem Blick, wusste der Bub doch, dass man ihm hier helfen würde. „Doctor“, stammelte er, als André sich ihm näherte.

   Pierre lächelte und nickte ihm beruhigend zu. Von anderen Seiten kamen zwei Frauen daher, um ihn notdürftig zu säubern. Die beiden Träger beugten sich über den Jungen, um ihn auf einen Waschtisch in der Nähe zu legen, der dem fremden Arzt auch als Untersuchungstisch würde dienen müssen. „Seid vorsichtig mit ihm!“, mahnte er fürsorglich und ergriff die ausgestreckte Kinderhand, die sofort seine Finger umklammerte. Er spürte, dass dieser kleine Mensch von ihm Hilfe erwartete, dabei konnte er ihm vielleicht gar nicht mehr helfen! Dennoch versuchte er ihm Mut zu machen. Sanft erwiderte er den Druck und sagte in fast akzentfreiem Spanisch: „No tengas miedo, chaval, keine Angst, mein Junge. Es wird alles gut.“

   Mit Scheren wurden die Stofffetzen aufgeschnitten und entfernt. Der Junge wimmerte beim Abreißen der an Wunden und Schrammen angeklebten Fetzen und der unangenehmen Säuberungsaktion der Frauen, während seine großen, seehundähnlichen Augen ununterbrochen hoffnungsvoll den Arzt anblickten. Sobald der schmächtige Kinderkörper nackt war, begann Pierre André seine Untersuchung, noch während ihn die Frauen wuschen. Mit den Fingerspitzen tastete er jeden verdächtigen Zentimeter ab, drückte ein wenig hier, ein wenig da, oft begleitet von kleinen, spitzen Schmerzensschreien.

   Nachdem er die Untersuchung beendet hatte, wusste er - nichts würde gut werden, wenn er nicht sofort operierte. Wahrscheinlich würde der Kleine sonst nicht einmal den Flug nach Mariquita und die Fahrt ins Spital überleben. André hatte schlimme Rippenfrakturen festgestellt. Die abgesplitterten Knochenstücke hatten die Pleura durchbohrt und waren in den rechten Lungenflügel eingedrungen. Dieser war zusammengeschrumpft wie ein lecker Ballon, was heftige Atemnot und Blutauswürfe zur Folge hatte.

   Er drehte sich um und blickte direkt in Raimundos vielsagendes Gesicht. Auch er schien davon überzeugt, dass der Junge nicht überleben würde. „Ich will ihn operieren. Was steht uns für eine Pleuradrainage alles zur Verfügung, Schwester Ingrid?“, fragte er.

   Ihre Antwort kam ohne Zögern. „Alles, was notwendig ist, Doktor. Ich werde es Ihnen richten.“ Sie ging hinüber zum Medikamentenraum, der dem Nebenraum im Hospital von Lérida ähnlich war‚ wo alles aufbewahrt wurde, und begann dort zu hantieren.

   Jordán sah Pierre verblüfft stirnrunzelnd an, als er fragte: „Sie wollen tatsächlich operieren?“ Angesichts seines ernsten Gesichtsausdrucks klang die Frage ziemlich dämlich.

   „Ja.“ André nickte leichthin.

   Raimundo hob gestikulierend die Hände. „Aber der Junge ist schon so gut wie tot! Sie verschwenden nur Ihre Zeit!“

   Die offene Kritik verdunkelte seine Augen. „Darüber nachzudenken habe ich nie für nötig gehalten, Raimundo! Ich habe nie einen Menschen aufgegeben, obwohl Rettung oft unmöglich schien!“ Er atmete tief durch und entspannte sich. „Und solange ich hier das Kommando habe, verlange ich von Ihnen, alles Menschenmögliche zu tun!“, fügte er im Befehlston scharf hinzu.

   Jordán sog hörbar die Luft ein. Für einen kurzen Augenblick war die Spannung zwischen den beiden spürbar, dann nickte er langsam. „Naturalmente, Pierre. Ich will Ihnen nicht dreinreden. Ich weiß, Sie sind ein guter Arzt. Es ist nur...“

   Es ist wie im Krieg, wollte er sagen. Wir können unsere Zeit und die Medikamente nicht an einen hoffnungslosen Fall verschwenden, wenn wir mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln auch so schon knapp dran sind! Aber André ließ ihn nicht zu Wort kommen. Er wusste genau, was Jordán sagen wollte, aber selbst in Krisenzeiten hatte jeder Mensch ein Recht auf Hilfe. Jedenfalls versuchte er diesem Grundsatz nach Möglichkeit immer gerecht zu werden. „Lassen wir das!“, winkte er unwirsch ab. „Hängen Sie eine Infusion an und dann assistieren Sie mir! Können Sie das übernehmen?“

   Jordán nickte. Eine der Hilfen brachte ihm auf Ingrids Geheiß eine Infusionsflasche und sonstiges, das er benötigte, und er machte sich sofort an die Arbeit, während André dem Buben erklärte, was nun mit ihm geschehen würde. Schwester Ingrid rollte ein Tischchen herbei, auf dem sie alles steril hergerichtet hatte.

   In glühender Hitze und trotz lästiger Fliegen, die sie immer wieder mit wedelnder Hand zu verscheuchen versuchte, verlief die Operation komplikationslos. André richtete die unteren drei Rippen, dann führte er etwas oberhalb einen Thoraxschlauch mit einem Ventil ein, welchen er an der Haut annähte. Dieses erlaubte eine sofortige Besserung der Atmung.

   Als der Patient transportfertig war, sahen sich die beiden Ärzte befriedigt an. Der Schweißtropfte von ihren Nasen, aber sie freuten sich und reichten sich die Hände. Ihre Uneinigkeit und der kurze Zwist von vorhin waren vergessen; die gemeinsame Arbeit hatte die beiden zu einem gut funktionierenden Team zusammengeschweißt. Anerkennend meinte der Kolumbianer: „Er kommt durch! Madre de Díos, ich glaube wirklich, er schafft es.“

   Pierre André nickte. Er streifte die Handschuhe ab und wischte sich mit einem Tuch über das Gesicht. „Wenn nachträglich keine Komplikationen auftreten, Raimundo. Nur dann. Noch ist er nicht über den Berg. Aber wir haben getan, was wir konnten.“

 

Zeitungen und Radio sprachen von einer Jahrhundertkatastrophe, die einen extrem hohen Blutzoll, den höchsten seit dem Ausbruch des Krakatau am 26. August 1883 gefordert hatte. Man schätzte die Zahl der Opfer auf 20 bis 25’000. Die Bilanz war fast überall gleich: sehr viele Tote und kaum Überlebende. Die Gründe dafür waren die ungeheure Wucht des Ereignisses und die menschliche Trägheit angesichts der sich klar abzeichnenden Bedrohung. Die kolumbianischen Zeitungen schrieben von einem Inferno biblischen Ausmaßes, von einer ungeheuren Zerstörungswut der Natur und von Schicksalen, die überhaupt nicht nachfühlbar seien.

Chinchiná, ein Städtchen mit 60’000 Einwohnern im Departement Calda, liegt auf einem Plateau, rund 50 Meter über dem Fluß, und blieb völlig unversehrt. Doch auf einer Länge von mehreren Kilometern dem Río Chinchiná entlang hatten sich in letzter Zeit rund 2’000 Menschen angesiedelt: arme Leute, die aus dem Flußbett Baumaterial zusammengetragen und verkauft, und Wanderarbeiter, die bei der Kaffee-Ernte in den umliegenden Fincas, den südamerikanischen Bauernhöfen, Arbeit gefunden hatten. Teilweise waren es Squattersiedlungen gewesen, zonas de invasión, wie sie genannt werden. Der Ausbruch hatte hier ein Hochwasser ausgelöst, das in den Schluchten und Tälern rasend schnell niedergedonnert war und in den engen Windungen übertretend, Bäume, Brücken und Behausungen mit sich gerissen hatte. Von den Häusern und Hütten am Río war jetzt keine Spur mehr zu sehen. Leichen ihrer Bewohner wurden Hunderte von Kilometern flußabwärts aufgefunden. Die Bilanz war wie in Armero erschütternd: 700 Obdachlose, 11 Verletzte und 800 Tote oder Vermisste; zerstörte Häuser; Sachschaden von umgerechnet fast 100 Millionen Euro.

   Was sich den Helfern und Sanitätern darbot, waren eigentliche Horrorbilder. Militärhubschrauber, die auf der Suche nach Leben die verschwundene Stadt Armero überflogen, sahen eine endlose Schlammwüste. Von der reichen, fröhlichen Stadt war kaum etwas übriggeblieben. Armero war zu einem Friedhof geworden, jede einzelne herausragende Ruine zu einem makabren Grabstein, zum Zeugen für die Unvernunft der Menschen. Schon jetzt wurde angenommen, dass viele Tote hier wohl für immer ruhen würden.

   150 Kilometer außerhalb der Stadt Bogotá entdeckte die Besatzung eines kolumbianischen Rettungshubschraubers etwas, das selbst den Abgestumpftesten aus der Fassung gebracht hätte. „Da, was ist das?“, fragte Pedro Benítez heiser vor Erregung, beugte sich auf seinem Sitz weiter vor und deutete mit dem ausgestreckten Arm hinunter auf den Schlamm.

   Sein Begleiter und der Pilot der Maschine folgten mit den Augen der Richtung seiner Hand, worauf auch sie es sahen. „Madre de Díos!“, entfuhr es ihnen und: „Dío mio!“ Lorenzo Álvarez, der Jüngste der Truppe, bekreuzigte sich rasch. Sie hielten alle den Atem an und wurden bleich. Sie flogen tief genug, um den Kopf eines Menschen - nur den Kopf, der aus dem Sumpf ragte - zu erkennen. „Geh runter, Florencio. Wir wollen sehen, ob wir noch etwas für ihn tun können“, stieß Benítez vor Entsetzen heiser aus.

   Florencio Calandrella nickte. Obwohl normalerweise dunkelhäutig, hätte man ihn jetzt mit seiner fahlen Haut glatt mit einem Europäer verwechseln können. Sein Verstand weigerte sich zu glauben, was seine Augen erblickt hatten. Wie grausam konnte das Schicksal mit den Menschen umspringen! Manchmal fiel es schwer, in solchen Situationen an die Gerechtigkeit und an Gott zu glauben. Ein Kloß steckte in seiner Kehle, der sich trotz allem Würgen nicht hinunterschlucken ließEr ist bestimmt tot! Wir können nichts mehr für ihn tun! Er drückte den Steuerknüppel nach vorn und ging tiefer.

   Als er sah, dass der Mensch das blutverschmierte Gesicht zu heben begann und der Mund Worte zu einem unhörbaren Hilferuf formte, wurde er noch um eine Nuance blasser. No! Das gibt es nicht! Das ist nicht möglich! Er lebt! „Seht nur, compañeros“, wisperte er vor Aufregung fast tonlos. Auch ihre Mienen waren fassungslos, die Augen vor Staunen und Schreck weit aufgerissen.

   „Er lebt!“, stieß Lorenzo Álvarez baff hervor.

   „Por Dios, si, lo veo, ich seh's! Kannst du hier landen?"

   Florencio schüttelte den Kopf. „Creo que no, ich glaube nicht. Ich möchte lieber kein Risiko eingehen. Der Schlamm sieht tückisch aus. Wir können es uns nicht leisten, die Kiste zu verlieren. Außerdem möchte ich wirklich ungern da unten im Morast hocken.“

   „Das möchte ich auch nicht“, erwiderte Pedro trocken, während er den Sicherheitsgurt löste und von seinem Sitz aufstand, „aber wir müssen versuchen, ihn da rauszuholen!“

Álvarez folgte ihm nach hinten in den Rumpf des Hubschraubers, wo Pedro bereits nach einem am Wandbord aufgehängten Klettergürtel griff. Während der Pilot die Maschine so ruhig wie möglich an Ort in der Luft hielt, stieg er in die Beinschlingen, zog den Klettergurt hinauf bis unters Gesäß und ließ die Riemen um die Taille mittels Karabiner vor dem Bauch einschnappen. Der Klettergurt diente bei den Alpinisten als Teil der Absturzsicherung dazu, die beim Abfangen eines Sturzes auftretenden Kräfte aufzunehmen und auf Körperteile zu verteilen, die stabil genug waren, um solche Kräfte ohne Verletzungen zu überstehen. Er musste außerdem so konzipiert sein, dass beim Hängen am Seil die Blutzirkulation nicht eingeschränkt wurde und sollte ein Hängen in einigermaßen stabiler Gleichgewichtslage bewirken, so dass der Träger auch dann möglichst schmerzfrei und sicher im Gurt hing, wenn er aufgrund von Bewusstlosigkeit oder einer Verletzung nicht selbstständig in der Lage war, seine Position zu verändern. Bei Rettungseinsätzen via Hubschrauber aus der Luft diente der Klettergurt quasi als Sitzgelegenheit, um die zu Hilfe eilende Person mit maximalstem Komfort und sicher in kontrollierter, aufrechter Position abzuseilen. Ebenfalls war es möglich, eine andere Person mit Hilfe von Karabinern am Klettergurt einzuhängen und so zu sichern, dass sie nicht abstürzen konnte.

   Florencio Calandrella warf einen kurzen Blick über die Schulter zurück und sah Pedro fragend an. „Du willst raus?“

   Dieser schluckte einen Kloß hinunter. Auch wenn er Mühe hatte, den grausamen Anblick und den Gedanken an die furchtbare Marter dieses Menschen auszuhalten, so konnte er ihn doch nicht lebendig und ohne eine Rettung zumindest versucht zu haben, da unten im Morast stecken lassen. „Sí. Halt den Kasten in dieser Höhe still. Ich gehe runter und versuche ihn zu befreien. Haben wir genügend Sprit?“

   Calandrella nickte. „Es wird reichen. Mach dir keine Sorgen.“

   Ihr junger Begleiter öffnete die Luke und schob die Türe zurück. Mit vor Aufregung zitternden Händen hakte er Pedro Benítez’ Klettergurt am Seil der seitlich am Hubschrauber angebrachten Winde ein. Nach einem kurzen, stummen Gebet und einem Kuss seines Rosenkranzes, den er als Kette um den Hals trug, schwang sich Pedro Benítez ins Freie. In schwindelnder Höhe baumelte er hin und her. Álvarez zog das Seil heran und versuchte ihn etwas zu stabilisieren.

   „Sei vorsichtig, Pedro!“, rief Florencio vom Pilotensitz in beschwörendem Tonfall über die Schulter zurück.

   Pedro hatte zwei Seile am Gürtel befestigt und grinste etwas verzerrt. „Aber bestimmt, Alter!“ Die Worte wurden ihm vom Mund gerissen.

   Lorenzo klopfte ihm ermutigend auf die Schulter, ehe er ihn über die Winde abzuseilen begann. Er tat es trotz der gebotenen Eile mit aller Vorsicht, denn die Rotorblätter des Hubschraubers verursachten recht starke Turbulenzen. Die Luftwirbel zerrten an seinem Overall und Haaren.

   Für Pedro Benítez war es immer wieder ein eigenartiges Gefühl, frei zwischen Himmel und Erde schwebend zu hängen und zu denken, dass beim hundertsten Mal vielleicht etwas schiefgehen könnte. Wie oft schon war er ausgestiegen und hatte dieses Gefühl erlebt, und doch war dabei die Angst immer in ihm gewesen. Langsam sank er in die Tiefe. Die ganze Zeit blickte dabei das Opfer zu ihm hoch, obwohl doch sicher die grelle Sonne blendete, und Pedro tat es leid, dass es nicht schneller nach unten ging. Schließlich hatte er es geschafft und nur noch wenige Zentimeter trennten ihn vom Boden. Erst auf die kurze Distanz konnte er den Geschlechtsunterschied erkennen. Der Mann blickte ihn aus leidenden Augen an, in denen schwache Hoffnung zu schimmern begann. Pedro hielt sich mit beiden Händen am Seil fest. Er streckte die Beine, um sich am Boden aufzufangen, doch seine Füße fanden keinen festen Grund, die Beine sanken bis über die Knie im morastigen Boden ein. „Hoch!“, schrie er wild gestikulierend und mit sich überschlagender Stimme seinem jungen Kollegen an der Winde zu, der wegen des Motorlärms nicht die Worte, wohl aber die Armbewegungen verstand. Álvarez zog ihn mit der Winde aus dem Sumpf. Dieser dreckig-braune Morast schien wirklich bodenlos zu sein.

   Vor Erleichterung über den soeben erlebten Schock rann ihm noch nachträglich ein eiskalter Schauder über den Rücken, der seinen ganzen Körper erschauern ließ.

   Florencio Calandrella flog Pedro noch dichter an den Kopf heran, wo er plötzlich festen Grund spürte. Wahrscheinlich war es derselbe, der den Verletzten vor dem Versinken bewahrte...

   Pedro wusste nicht, worauf er stand, und er wollte es sich auch gar nicht erst ausmalen. Dennoch verfolgte ihn die Schreckensvision von Menschen- und Tierleibern, die unter ihm lagen. Schon allein der Gedanke daran drehte ihm beinahe den Magen um. Er versuchte ein ermunterndes Lächeln auf sein blasses Gesicht zu zwingen, was ihm aber nicht so recht gelingen wollte. „Ganz ruhig, amigo, no tengas miedo. Bald bist du frei“, sagte er und bemühte sich um einen möglichst zuversichtlich klingenden Ton.

   Mit bloßen Händen begann er zu graben, um die Arme und den Oberkörper des Mannes freizulegen, doch er merkte bald, dass die Arbeit nichts nutzte. Der Morast war nass und sog sich immer wieder fest. Es war eine mühsame und harte Arbeit, noch dazu, weil er sich kaum von der Stelle rühren konnte, ohne auf dem glitschigen Untergrund den Halt zu verlieren und noch tiefer einzusinken. Er begann schon nach kurzer Zeit zu keuchen. Vor Angst, der Sprit würde vielleicht doch nicht reichen, schwitzte und fror er trotz der Anstrengung gleichzeitig. Die Hose klebte bis zum Gesäß hinauf feucht an seinen Beinen, und der Schlamm schien ihn mit Klammern festzuhalten und gnadenlos in die Tiefe zu ziehen.

   Auch bei Florencio Calandrella rann der Schweiß. Wenn er sich seitwärts vorbeugte, konnte er beobachten, was unten vor sich ging. Mehrmals fiel sein Blick auf die Treibstoffanzeige. Wie lange würde Pedro brauchen, um den Mann freizubekommen? Er wusste um die Probleme, mit denen der Freund zu kämpfen hatte und machte sich große Sorgen. Beeil dich doch! Sie hatten noch höchstens eine halbe Stunde, dann mussten sie zurückfliegen und auftanken. Würde die Zeit reichen? Pedro war schon über zehn Minuten unten und hatte bisher so gut wie nichts erreicht.

   Dieser grub und grub und scharrte wie wild, und obwohl es aussichtslos schien und er dabei fast verzweifelte, bemerkte er nun doch, wie der Matsch lockerer wurde. Bis er aber soweit war, dass er dem Mann ein Seil unter den Armen hindurchziehen konnte, war fast die Hälfte der Zeit herum.

   Florencio sah wieder nervös auf den Treibstoffanzeiger, der bedrohlich gesunken war, dann auf die Armbanduhr. Noch 15 Minuten. Díos mío! Würde es tatsächlich reichen? Álvarez zweifelte daran. Auch er blickte ständig auf die Uhr. Sein Herz klopfte heftig. Wie lange würde Calandrella den Abflug hinauszögern, wenn eine baldige Rettung nicht gelang? Wenn der Sprit nicht reichte und sie hier abstürzten?

   Pedro suchte mit den Füßen nach einem sicheren Halt. „Bald“, versprach er dem Mann mit einem aufmunternden Lächeln. Dieser versuchte zu nicken. Über seine geschwollenen Lippen kam schwach ein „Sí, señor“. Pedro hakte mit bedächtigen Bewegungen die Zugleine an das Seil, das er unter den Armen des Mannes verknotet hatte, dann winkte er Lorenzo Álvarez, ihn in die Höhe zu ziehen.

   Das Seil straffte sich zuerst langsam, dann bis zum Zerreißen. Álvarez spürte den großen Widerstand, der sich der elektrischen Winde entgegensetzte. Sein Atem ging gepresst vor Aufregung. Würde das Seil halten? Er beugte sich seitwärts aus dem Hubschrauber, um Pedro besser zu sehen. Dieser bedeutete ihm langsamer zu ziehen. Sogar durch das Lärmen des Rotors vernahm er das Schreien des Opfers. Pedros Gesicht war verzerrt. Er grub mit den Händen fieberhaft weiter, doch seine Bemühungen nutzten nicht viel. Das Schmerzgebrüll drang Álvarez durch Mark und Bein. Wie Pedro das bloß aushalten konnte?

   Plötzlich wurden die Achseln des Mannes sichtbar, dann die Brust. Immer mehr kam der Leib zum Vorschein. Nass und klebrig hing der Schlamm an den Kleidern. Durch die Dreckkruste waren noch keine Wunden zu sehen, doch das konnte täuschen. Erst nachdem das Opfer mehr und mehr befreit war, erkannten die Retter den wahren Grund seiner fürchterlichen Schreie: Becken und Beine des Mannes waren fürchterlich zugerichtet, richtiggehend zerquetscht. Pedro wurde bei diesem Anblick übel. Er war eine Menge gewöhnt, aber das war wirklich mehr, als er vertragen konnte. Er musste sich abwenden und würgte.

   „Por Díos, ich dachte schon, wir würden es nicht schaffen“, sagte Florencio heiser und trocknete sich mit einem Tuch das verschwitzte Gesicht ab.

   „Ich auch. Wie sieht’s mit dem Treibstoff aus?“, erkundigte sich Álvarez.

   „Es reicht. Aber du musst dich beeilen!“

   Lorenzo betätigte die Seilwinde und zog den halb bewusstlosen Verletzten auf die Höhe des Frachtraumes, dann blockierte er die Winde und kroch an den Rand der offenen Ladeklappe, packte den Mann an den Achseln und dem Seil und zerrte ihn in den Hubschrauber. Als er es geschafft und auch Pedro nach oben geholt hatte und die Anspannung nachließ, musste er sich übergeben.

   Florencio sagte nichts. Er drehte sich noch nicht einmal um, sondern flog auf dem schnellsten Weg Mariquita an. Pedro legte dem Bauern eine Decke über den geschundenen Körper, dann setzte er sich erschöpft neben Álvarez. „Er sieht schrecklich aus, Pedro“, flüsterte dieser tonlos und fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht, um den Rest Erbrochenes wegzuwischen. Benítez nickte. Er sagte nichts. Er hatte nichts dazu zu sagen. Dass dieser Mann nicht mehr lange leben würde, war beiden klar. Tatsächlich überlebte er die langen Minuten bis zur Landung in Mariquita nicht.

 

Obwohl Ärzte und Helfer unermüdlich im Einsatz waren und fast ohne Pausen arbeiteten, gab es für viele Verschüttete keine Rettung mehr. Menschen, denen durch das Unglück Körperteile abgetrennt oder die an irgendwelchen Gegenständen zerquetscht worden waren waren meist schon an Ort und Stelle verblutet, noch bevor die Suchtrupps sie überhaupt gefunden hatten und sie geborgen werden konnten. Andere starben kurz nach ihrer Rettung auf dem Weg zu den Sanitätsstellen und Spitälern. Hunderte von zerschundenen und zum Teil schrecklich zugerichteten Leichen wurden geborgen und in Massengräbern beigesetzt.

   Pierre André, Raimundo Jordán und ihre Crew kamen kaum zu einer Pause oder gar aus ihren Kitteln heraus. Um Material zu sparen, das äußerst knapp war, wuschen sie häufig die Hände mitsamt den Gummihandschuhen darüber und tauchten sie in streng riechendes Desinfektionsmittel. Sie schwitzten unablässig, was bei der Hitze und dem Arbeitspensum nicht verwunderlich war. Es gab zu nähen, zu operieren, notfallmäßig zu amputieren. Sie waren sich beide der Tatsache bewusst, dass für 20- 25 Prozent der Verletzten praktisch keine Aussicht darauf bestand, dem Tod durch Starrkrampf oder Entzündung der Wunden zu entgehen. Für die in den angrenzenden Zelten untergebrachten Obdachlosen bestand zudem die Gefahr von Gelbfieber und Darmkrankheiten; durch das verseuchte und daher nur abgekocht genießbare Trinkwasser erhöhte sich das Risiko.

   Die beiden Ärzte arbeiteten bis tief in die Nacht hinein, während sich die Crew in schichtweisem Betrieb ablöste. Schließlich sagte André während einer dringend nötigen Kaffeepause: „Legen Sie sich schlafen, Raimundo. Ich weiß von Schwester María, dass Sie seit Ihrer Ankunft letzte Nacht bis jetzt durchgemacht haben. Sie brauchen etwas Ruhe, denn es wird noch viel Arbeit für uns geben.“

   Jordán war tatsächlich froh über das Anerbieten des Franzosen. Er war todmüde, außerdem wusste auch er, dass es noch tagelang so weitergehen würde. Sie würden alle ihre Kräfte noch brauchen, wenn sie nicht irgendwann zusammenklappen wollten. Also nutzte er die Gelegenheit. „Ustedes tienen razón, Sie haben recht, Pierre. Ein paar Stunden Schlaf werden mir gut tun. Wecken Sie mich in fünf Stunden, dann löse ich Sie ab. Sie brauchen Ihren Schlaf genauso wie ich.“

   André nickte mit einem müden Grinsen. „Natürlich, Raimundo. Buenas noches."

   Jordán drehte sich um und ging durch den Mittelgang in die Nacht hinaus. In seinem Zelt, das er mit seiner Frau Amelia bewohnte, einer der Krankenschwestern, die zur Nachtwache eingeteilt war, ließ er sich angezogen aufs Bett fallen und schlief sofort ein.

   Die folgenden Stunden verliefen etwas weniger hektisch. Im Licht der Scheinwerfer gestaltete sich die Suche nach Verschütteten schwieriger. Obwohl mit Lawinenhunden weitere Überlebende in den Trümmern gefunden werden konnten, dauerten die Bergungen unter den erschwerten Bedingungen länger, so dass eine gewisse Beruhigung spürbar war. Die Luft im Zelt kühlte sich kaum ab, deshalb war André froh, als er einmal für ein paar Minuten hinausgehen konnte. Er hatte das Bedürfnis, ein paar Schritte zu laufen, um seine steifen Glieder zu lockern. Vor dem Medikamentenraum wollte er gerade seinen Kittel ablegen, als Ingrid Peters an ihn herantrat. „Doktor André?", sagte sie leise.

 „Was gibt es, Schwester?“ Er drehte sich um und lächelte sie freundlich an.

„Dürfte ich Sie wohl bitten, sich noch einen der Patienten anzusehen?“, fragte sie. Ihre sonst so selbstsichere Stimme klang plötzlich fast schüchtern.

   „Natürlich.“ Er knöpfte seinen Kittel wieder zu. „Wo liegt er?“

   Ingrid führte ihn zum drittvordersten Bett, in dem Fabián Lozano lag, den Unterschenkel hochgelagert auf einer mit Schaumstoff gepolsterten Kiste, und blieb vor dem Bett stehen. „Das ist Fabián“, sagte sie einfach, während sie die Wolldecke über ihm zurückschlug.

   Pierres erster Blick fiel auf das eingefallene Gesicht des Buben, der nächste kopfschüttelnd auf seinen Fuß. „Das sieht aber gar nicht gut aus!“, stellte er fest. „Wann hat man ihn hergebracht?“

   Ingrid blickte beschämt zu Boden. „Ich habe ihn in Guayabal aufgelesen, als wir kurz dort Halt machten.“

   Er musste die Ohren spitzen, um die halb geflüsterten Worte zu verstehen. Der große Mann sah irritiert auf sie nieder. „Sie haben was?“

   Sein hörbarer Ärger weckte Ingrids Kampfgeist. Ihr Kopf flog hoch, das Kinn reckte sich nach vorn. „Ich sagte, ich habe ihn hergebracht!“ Ihre Stimme klang sogar fast stolz.

   André zog die Augenbrauen zusammen und auf seiner Stirn entstand eine unmutige, steile Falte. „Verdammt, Ingrid, das war vor tausend Stunden! - Und wenn ich mich recht entsinne, dann ist Guayabal eine der Sanitätsstationen, von denen aus die Patienten in die umliegenden Spitäler transportiert werden!“

   Die junge Frau nickte und ließ ob seiner Zornesröte den Kopf sinken. „Er ist in Guayabal notdürftig versorgt worden.“

   „Dann verstehe ich nicht...?“

   „Offenbar wissen Sie nicht, was mit Waisenkindern in diesem Land geschieht, Dr. André!“ Ihr Gesicht zuckte wieder hoch, in ihrem Blick lag so etwas wie Entschlossenheit. „Vielleicht interessiert es Sie auch nicht! Ich jedenfalls wollte verhindern, dass aus Fabián eines der vielen Straßenkinder wird, das stehlen muss, um zu überleben!“

   André musste amüsiert ein Grinsen verbeißen und, weiterhin den tobenden Vorgesetzten markierend, schüttelte er scheltend den Kopf: „Trotzdem geht es nicht, dass Sie Patienten, die bereits versorgt wurden, auch noch hierher bringen, wo wir doch so schon keinen Platz mehr haben! - Und was Ihre Nächstenliebe angeht, Schwester, so wüsste ich nicht, wie Sie das verhindern könnten!“

   Ingrids große Gestalt reckte sich noch mehr, so dass sie dem Franzosen nun geradewegs in die Augen sehen konnte. Energisch schob sie das Kinn nach vorn, bevor sie ruhig erklärte: „Ich werde ihn adoptieren!“

   Der große Mann konnte nicht mehr an sich halten. Dass sie wie eine Tigerin vor ihm stand und sich für diesen fremden Knaben wehrte, amüsierte und berührte ihn. Seine Cheffassade bröckelte, und plötzlich lächelte er. Ingrid sackte die Kinnlade herab und ihr Mund blieb offen. Sinnlich, ging es ihm durch den Kopf.

   Sie hatte damit gerechnet, dass er noch wütender werden würde, weil sie sich gegen ihn stellte und ihm widersprach, weil sie seine Autorität respektlos untergrub, stattdessen brach er in ein fröhliches befreiendes Lachen aus. Ingrid blickte ihn verwirrt an und wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Gegen einen Zornausbruch hatte sie sich gewappnet, nicht aber gegen so etwas.

   „Da haben Sie sich aber was vorgenommen, kleine Ingrid“, neckte er. In seiner Stimme schwang sogar Anerkennung mit.

   Sie schloss den Mund und nickte. „Das weiß ich.“

„Nun ja.“ André beugte sich zum Bein des Jungen hinunter, als wäre damit alles gesagt, was es dazu zu sagen gab. Er nahm das Sprunggelenk nun genauer in Augenschein. „Es wäre besser gewesen, Sie hätten mich früher zu ihm gerufen. - Was ist bisher getan worden?“, erkundigte er sich sachlich.

   Schwester Ingrid schwieg verlegen.

„Nun?“ Er hob den Kopf, ohne die Hände vom Bein des Jungen zu nehmen. Seine Augen musterten sie durchdringend.

Sie blickte erneut zu Boden und knetete ihre schlanken Finger. „Ich hatte bisher nicht den Mut, Dr. Jordán darum zu bitten, ihn sich anzusehen.“ Diesmal klang ihre Stimme nicht mehr so fest wie zuvor und als hätte sie aller Mut verlassen.

Pierre seufzte. „Wir sind nicht die einzigen Ärzte hier.“

   Ingrid nickte. Auf einmal lächelte sie wieder. „Aber die besten“, konterte sie selbstsicher, um dann leise zuzugeben: „Außerdem hatte ich Angst, sie würden mich nicht verstehen und ihn mir trotz allem wegnehmen.“

   André schüttelte den Kopf, während ihm ein gelächelter Seufzer entschlüpfte. Die herzliche Wärme und Zuneigung dieser Frau gefiel ihm immer besser. „Wie geht es dir, Fabián?“, fragte er, an den Jungen gewandt, dem er väterlich die Hand auf die Schulter legte.

   Dieser zuckte die Achseln, als wollte er sagen: Wie kann es mir schon gehen? „Tengo dolores, muchos dolores, große Schmerzen.“

   Der Arzt nickte. „Creo que sí, das glaube ich. Dein Bein sieht schlimm aus.“ Er hob es an, betrachtete und befühlte es unter dem Wimmern des Buben von allen Seiten. Schließlich legte er es vorsichtig in die schaumstoffgepolsterte Schiene zurück und drehte sich zu Ingrid um. Sein ernster Blick sagte schon alles und trieb ihr eine Gänsehaut über den Rücken. „Die Fraktur scheint bis ins Gelenk zu verlaufen. Wenn er jemals wieder richtig gehen und herumtollen soll, dann muss er operiert werden!“, sagte er.

   Sie wusste genau, was er nicht gesagt, aber gemeint hatte. „Dr. André...!“, begehrte sie auf.

   Dieser schüttelte heftig den Kopf. Seine Augen blitzten und bekräftigten zusammen mit seinen Worten erneut seine Autorität: „Nein, Ingrid! Ich weiß, was Sie sagen wollen, aber das mache ich nicht! Wir sind hier, um Erste Hilfe zu leisten, nicht um stationäre Patienten zu behandeln! Der Junge muss von einem Knochenspezialisten operiert werden, und vorher müssen Röntgenbilder gemacht werden! - Sie müssen ihn nach Bogotá schicken!“

   „Nein!“ Ingrid machte mit heftigem Kopfschütteln einen abwehrenden Schritt von ihm zurück, der mehr als Worte ihre Enttäuschung über ihn ausdrückte. „Wenn er erst einmal dort ist, werde ich ihn nie wiedersehen! - Dr. André, begreifen Sie denn nicht, wie wichtig es mir ist, dass er nicht auf der Straße landet?“ Ihre Stimme klang fast weinerlich und flehend.

   Pierre streckte die Hände nach ihr aus, fasste sie an den Schultern und schüttelte sie leicht. Er spürte, wie sie unter seiner Berührung erzitterte. Sein Gesicht war todernst, als er eindringlich sagte: „Wenn Sie das Beste für ihn wollen, dann muss er in einem gut eingerichteten Krankenhaus von einem Spezialisten operiert werden!“

   „Sie werden ihn in ein Waisenhaus stecken!“, rief sie, ungeachtet der Tatsache, dass sie schlafende Patienten und Angehörige weckte und Ärzte und Pflegepersonal auf sich aufmerksam machte.

   André ging nicht darauf ein. „Dort können Sie ihn jederzeit besuchen! Sie müssen sich doch auch zuerst aneinander gewöhnen. - Haben Sie auch schon einmal daran gedacht, dass er Kolumbien vielleicht gar nicht verlassen möchte? Ich nehme nicht an, dass Sie für immer hierbleiben wollen, nur wegen eines Jungen, den Sie noch nicht einmal kennen!“

   „Oh, Doktor!“ Ingrid schlug die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus.

   Pierre überlegte nicht, was er tat. Seine Hände lagen ohnehin schon auf ihren zuckenden Schultern. Impulsiv zog er die junge Frau an sich und nahm sie in die Arme.

   Sie erschauerte unter der Berührung seiner Hände, die ihren Rücken streichelten.

   „Ingrid! Mädchen!“ Der Franzose fühlte sich überfordert; er kannte sich nicht als Frauentröster. Bisher hatte er ähnlichen Gefühlsausbrüchen kaum Beachtung geschenkt, doch hier war nicht eine Frau, die weinte, weil er sie verlassen wollte; das Problem lag viel tiefer. Sie weinte um jemand anderen - um einen Fremden! „Ingrid! Hören Sie auf zu heulen, verdammt noch mal! Ich kann Sie nicht weinen sehen!“

   Fabián blickte beide aus großen, verständnislosen Augen an. Er verstand ihr Gespräch nicht und hatte keine Ahnung, wovon die beiden redeten. Worüber stritten sie und warum weinte die Frau?

   „Ingrid, bitte! Ich begreife Sie ja, aber hören Sie auf zu heulen, ich bitte Sie!“ Hilflos überfordert strich er ihr mechanisch übers Haar. „Vielleicht ist es in diesem Land gar nicht so schwierig, ein Kind zu adoptieren. Ingrid, hören Sie, wir können uns erkundigen. - Haben Sie Vertrauen!“, beschwor er sie.

   Ingrid blickte hoch. Tränen klebten an ihren langen Wimpern und ihre Lippen zuckten. Pierre André kam sich ertappt vor, weil das auf ihn faszinierend und erotisch wirkte. „Wir, Dr. André?“, fragte sie vor Verblüffung leise.

   Sein Nicken war von einem aufmunternden Schulterzucken begleitet. „Warum nicht?“ Er lächelte. „Ich kann versuchen, Ihnen zu helfen. Aber in erster Linie muss der Junge in ein Krankenhaus gebracht werden.“

   Die junge Frau zweifelte noch, er sah es ihr an. Ihre blauen Augen waren groß und ängstlich. „Versprechen Sie es?“, insistierte sie.

   André nickte. „Ich werde tun, was in meiner Macht steht. Aber er muss morgen als einer der ersten abtransportiert werden. Das müssen Sie mir versprechen.“

   Schließlich nickte sie. „Ja, Doktor. Ich werde ihn zurechtmachen und es ihm erklären.“ Ingrid wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den geröteten Augen. Dann löste sie sich mit einem Schritt zurück aus seiner Umarmung, als wäre es ihr lästig, und blickte mit hängenden Schultern auf den Fußboden. „Verzeihen Sie mir, Dr. André. Es ist mir wirklich sehr peinlich. - Aber ich habe es doch nur gut gemeint.“

   Pierre lächelte und nickte. „Ich weiß“, sagte er. „Ist jetzt alles in Ordnung?“ Mit dem Zeigefinger fuhr er unter dem Auge über ihre Wange und wischte eine letzte Träne fort. Dabei spürte er, wie eine ungekannte, angenehme Wärme von seinem Innern Besitz ergriff.

   Sie schniefte und nickte. „Ja, ich glaube.“

„Gut.“ Mit einem kurzen Nicken drehte er sich erleichtert um. Auf einmal wurde ihm die heiße, stickige Luft im Zelt unerträglich. Vielleicht war es auch etwas anderes, das ihn forttrieb, doch er schob es beiseite. Draußen werde ich mich wohler fühlen! Er wusste nicht, was soeben mit ihm passiert war, was Merkwürdiges von ihm Besitz ergriffen hatte. Es war etwas Unerklärliches, ein Gefühl, das er in dieser Art nicht kannte außer seinem Namen: Beschützerinstinkt. Vor dem Eingang zum Medikamentenraum legte er den Kittel ab und schlüpfte in sein Hemd, das er schon kurz nach seinem Arbeitsantritt wegen der Hitze abgelegt hatte.

Schwester Ingrid lief ihm nach und sah ihn fragend an. „Wo wollen Sie hin, Doktor?“

   „Ein wenig an die frische Luft. Ich bin bald zurück.“  

   Seine Sätze waren prägnant und knapp, als wollte er sie loswerden. Trotzdem lächelte sie. „Ich bin froh, dass Sie mir nicht böse sind.“

   „Warum sollte ich?“ Er machte eine fahrige Geste.

   Ingrid sah ihn offenherzig an. „Ich habe mich benommen wie ein kleines Kind, dem man etwas wegnehmen will. Es tut mir wirklich leid. - Nehmen Sie ein Funkgerät mit - sicherheitshalber“, wechselte sie im selben Atemzug das Thema, um ihm zu demonstrieren, dass sie darauf keine Antwort von ihm erwartete.

   Pierre André lächelte müde und nickte. „Einverstanden.“ Er zog eines der Geräte, die neben dem Eingang an einem Haken hingen, aus seiner Halterung. Bevor er sich zum Gehen wandte, drehte er sich aber noch einmal um. „Rufen Sie mich, wenn etwas ist.“

   Ingrid nickte beschwichtigend. „Natürlich. Seien Sie vorsichtig.“ Sie wandte sich ab und kehrte zu Fabián zurück.

  Vor dem Zelt streckte er sich und sog gierig die kühle Nachtluft ein. Aus dem Zeltinnern vernahm er noch gedämpftes Schnarchen und Gesprächsfetzen; er warf einen Blick zurück, nur um sich sofort wieder abzuwenden. In ihm regte sich wieder jenes Gefühl, das er zuerst verspürt hatte, als er Ingrid in die tiefen Seen ihrer Augen geblickt und auch jetzt wieder, als er sie tröstend im Arm gehalten hatte. Nur das trieb ihn nun, entgegen aller Vernunft, vom Lager in die Nacht hinaus.

   Er kannte dieses Gefühl; es war schuld, dass er ruhelos war, ein Frauenheld, immer auf der Suche nach neuen Abenteuern. Der Drang zu besitzen durchpulste ihn, der Wunsch nach Ablenkung, die Sehnsucht nach einem anschmiegsamen Körper. Die Sehnsucht nach Liebe! Allein schon durch ihre Ausstrahlung und Wärme hatte Ingrid diese Empfindung in ihm ausgelöst. Er wusste, dass er für sie eine Gefahr war, denn wenn er sie satt hätte, sehr bald wohl, würde sie verkümmern wie eine Pflanze, der man das Wasser entzieht. Er wusste, er musste fort. Fort von ihr, solange er sich noch unter Kontrolle hatte. Er wollte sie nicht unglücklich machen; sie hatte Besseres verdient. Aber da war der Hunger nach warmem Fleisch, das Verlangen, einen Trieb zu befriedigen. Eines jedenfalls war ihm klar: Er brauchte eine Frau, eine Raubkatze ohne Gefühle, die ihm ebenbürtig war. Doch wo war so eine in dieser Einsamkeit schon zu finden?

   Unbewusst lenkte er seine Schritte von dem mit grellen Scheinwerfern beleuchteten Morast der überfluteten Umgebung auf die weiter entfernt im Dunkeln liegenden weißen Häuserruinen zu, die im sanften Mondlicht badend wie zu einem Besuch einluden. Irgendwie fühlte er sich magisch von diesen wie Dolmen dastehenden Mauergebilden angezogen. Um sich von Ingrid abzulenken, versuchte er über den Ausgang dieses ersten Tages nachzudenken.

   Die Ruinen waren gut drei Kilometer vom Lager entfernt. Er war überrascht, dass er so lange brauchte, um bis zu ihnen zu gelangen. Obwohl die Feuchtigkeit schon nach kurzer Zeit durch seine Turnschuhe drang, sie hatten sich mit Schlammwasser vollgesogen wie ein Schwamm, störte ihn das kaum. Die Anziehungskraft des Mahnmals an die zerstörerische Kraft der Natur ließ ihn nicht los und lockte ihn trotz allem weiter.

   Er versuchte seine wirren Gedanken zu ordnen, und um sich von Ingrids blauen Augen und der Weichheit ihres Körpers abzulenken, rief er sich andere Bilder ins Gedächtnis. Er hatte das Land gesehen, als er hergeflogen war, hatte unter sich den Dschungel gesehen. Schön wie Jadefiguren waren die Baumriesen gewesen. Sie hatten schreckliche Gewitter überdauert, vielleicht auch Brände, aber nichts hatte ihr Wachsen aufgehalten.

   Während Pierre innerlich in der Schönheit und Einmaligkeit des Dschungels aufging, wurde er langsam ruhiger. Er kannte den Urwald. Er hatte lange genug während Einsätzen dort gelebt, um sich genau an Details und Geräusche zu erinnern. Alles war natürlich, das Säuseln des Windes in den Ästen, das hektische Flüstern der aufeinandertreffenden Blätter, das kurze „Blubb“, wenn ein Fisch die fast spiegelglatte Wasseroberfläche zum Fangen eines Insekts durchstach und gleich wieder verschwand. Nichts hatte etwas Beunruhigendes, alles seine Zugehörigkeit.  

   Ein leises Wimmern, das in seiner Vorstellung völlig fremd klang, ließ ihn zusammenzucken. Was war das? Es hatte sich, obwohl fremd, doch irgendwie bekannt angehört. Starr und mit klopfendem Herzen blieb er stehen, lauschte mit angehaltenem Atem in die Nacht, hörte aber nichts. Alles war ungewöhnlich ruhig. Es war ihm gar nicht aufgefallen, dass er den Ort, der ihn angezogen hatte, soeben betrat. Aus den mystischen Dolmen seiner Vorstellung waren wieder die geborstenen Ruinen eines Hauses geworden, und er schalt sich selbst einen Narren, dass er Geräusche hierhin importierte, wo gar keine mehr existieren konnten. Bestimmt lebt hier niemand mehr. Da wird mir wohl meine Fantasie einen Streich gespielt haben, dachte er kopfschüttelnd, und plötzlich musste er grinsen. So was, ich höre wohl schon Gespenster!

 Doch da war es wieder. Es war wie das leise Klagen des Windes, der durch die Ruinen strich. Pierre krauste die Stirn. Eine Sinnestäuschung? Oder doch real? Auf einmal fand er den Gedanken, dass es vielleicht doch nicht etwas anderes, sondern wirklich etwas Menschliches war, gar nicht mehr so abwegig. Er hatte die Ruinen erreicht, konnte die kalten, brüchigen Mauern mit den Händen berühren und kletterte vorsichtig über die herausgebrochenen Steine. Der Schlamm wurde tiefer und er sank bis zu den Knien ein.

   Das Wimmern wiederholte sich desto lauter, je näher er kam. Pierre überlegte sich die Gefährlichkeit seines Alleingangs nicht. Eine innere Stimme trieb ihn vorwärts, ließ ihn alle Vorsicht vergessen. Dabei hätte er allen Grund gehabt, vorsichtiger zu sein. Überall konnte es Plünderer geben, Diebe, die durch seine Anwesenheit bei ihrem Tun gestört worden sein konnten und die ihm nun auflauerten, um ihn zum Schweigen zu bringen. Hinter jedem größeren Mauerteil konnten wilde Hunde lauern, die ihn beim nächsten Schritt anspringen, zu Boden reißen und, wenn er wehrlos war, als Beute zerlegen und zerfetzen würden. Wie konnte er annehmen, dass ausgerechnet hier in der Nähe von Armeros Zeltstadt und der Rettungsstationen nicht schon jemand vorbeigekommen war, um nach den Opfern und eventuellen Überlebenden zu suchen? Er wusste, es war wahnwitzig, was er tat und dennoch zögerte er keine Sekunde. Es war, als zöge der Geist dieses Hauses ihn mit aller Macht in seinen Bannbereich hinein.

   Das Haus war schon durch das Beben zerstört worden, bevor der Nevado del Ruiz ausgebrochen war. Er ahnte und stellte sich vor, was sich hier in diesen Mauern für eine Tragödie abgespielt hatte. Das Dach war auf die schlafenden Menschen herabgestürzt und hatte sie unter sich begraben. Danach war das Wasser, hintendrein die Schlammlawine gekommen, in denen die Überlebenden ertrunken oder erstickt sein mussten. Oder war eben, wie er glaubte, doch noch nicht ganz alles Leben ausgelöscht?

   Als er durch eine noch stehende Türumrandung trat, blieb er unvermittelt mit der Hüfte an etwas Vorspringendem hängen, das er im zu schwachen Licht des Mondes nicht erkannt hatte, und zuckte erschrocken zurück, um gleich darauf mit Schrecken festzustellen, dass es die falsche Bewegung gewesen war. Er hörte, wie der Gurt riss. Das Funkgerät! Er spürte, wie es über seinen Schenkel hinabrutschte. Die Reaktion, mit der seine Hand an die Stelle zuckte, war blitzschnell, trotz allem zu spät. Es war weg! Verdammt...! Er verbiss sich seinen Fluch. Nun konnte er keine Hilfe mehr herbeirufen! Er bückte sich, doch er hatte nicht den Mut, mit bloßen Händen im Schlamm herumzutasten aus Angst, sich zu verletzen. Du blöder Arsch! Er verwünschte sich, keine Taschenlampe eingesteckt zu haben. Dass auch Ingrid nicht daran gedacht hat...! Wieder war sie in seinen Gedanken, doch er verscheuchte sie mit einer energischen Armbewegung vor seinem Gesicht; er hatte jetzt keine Zeit, an romantische Abenteuer zu denken. Da war etwas, das er ergründen musste. Vielleicht stand ein Menschenleben auf dem Spiel.

   Seine Augen hatten sich längst an die Dunkelheit gewöhnt. Von der leeren Türe aus sah er sich vorsichtig um. Obwohl er sich recht sicher fühlte, kam ihm nun doch zum Bewusstsein, dass es nicht ungefährlich war, des Nachts allein herumzuwandern, und er hatte natürlich auch keine Waffe bei sich. Aber auch diese Gedanken verdrängte er. Pierre horchte angestrengt. Das Wimmern war verstummt, und er begann sich schon zu fragen, ob er doch einer Sinnestäuschung erlegen sei und ob er sich auf den Rückweg machen sollte, als er es wieder hörte. Es war ein klägliches Wimmern von jemandem in aussichtsloser Hilflosigkeit oder Not. „Wer ist da?“, fragte er leise.

   Das Schluchzen brach abrupt ab, eine lähmende Stille folgte. Er bewegte sich nicht, stattdessen drehte er den Kopf und versuchte zu ergründen, woher es gekommen war. Doch diesmal wiederholte es sich nicht. Er versuchte sich die Person vorzustellen, die da irgendwo vor ihm sein musste, die vielleicht hilflos war und sich davor fürchtete, sich zu verraten, weil sie logischerweise nicht wusste, was sie mit seiner Person erwarten würde. Er konnte ein Strauchdieb oder ein Mörder sein...

   Sekunden nach dieser Überlegung flüsterte eine schwache Stimme: „Ayúdeme, señor, helfen Sie mir! Por favor, gehen Sie nicht fort! Ayúdeme!“ Die Worte kamen dunkel und kratzig aus einer hörbar staubtrockenen Kehle, trotzdem musste es die Stimme einer Frau sein.

Vorsichtig verließ André die wohl nur in seiner Einbildung bestehende schützende Deckung des Türrahmens. Schwach konnte er das Viereck der ins Leere ragenden Wände sehen. Er blieb verwirrt stehen, da er nicht genau wusste, aus welcher Richtung die Stimme nun tatsächlich erklungen war. „Wo sind Sie? Versuchen Sie mit mir zu sprechen, dann wird mich Ihre Stimme zu Ihnen führen“, sagte er möglichst ruhig in perfektem Spanisch.

   Er erhielt keine Antwort. Minutenlang war es wieder still. Er wartete. Maola Rubio wusste nicht, was sie tun sollte. Díos, wenn der Mann nun keine guten Absichten verfolgt? Wenn er gekommen ist, um zu sehen, ob hier noch etwas zu holen ist? Wenn er sie fand, würde er sie töten, weil er für seine schändliche Tat keine Zeugin hinterlassen konnte. Aber wollte sie denn leben? Wollte sie nicht lieber wieder an Carlos’ Seite sein? Und wenn der Mann doch nur helfen will? Santa María, ayúdame! Sie kämpfte mit sich um eine Entscheidung. Was sollte sie tun? Was war richtig? Aber wenn er wieder ging und niemand anderer herkommen würde? Dann würde sie elend umkommen. Die Geier würden über ihr kreisen, sich neben sie setzen und vielleicht mit ihren grässlichen, krummen Schnäbeln bei lebendigem Leib auf sie einhacken... Maola erschauderte. Nein, dem zog sie einen raschen Tod vor. „Sind Sie noch da, señor?“, fragte sie mit zitternder, diesmal doch recht klar verständlicher Stimme. Sie bibberte vor Kälte und vor dem Gedanken, dass der Fremde sie inzwischen wieder alleingelassen haben könnte. Doch ihre Furcht war unbegründet.

   „Ja, ich bin noch da“, sagte er. „Wo sind Sie?“

Ihrer Brust entrang sich ein erleichterter Seufzer, trotzdem hatte sie Angst, die sie zur Vorsicht mahnte: „Wer sind Sie, señor?“

   Deutlich hörte er, dass in ihrer Stimme große Furcht mitschwang, und er konnte verstehen, dass sie ihn noch nicht sofort zu sich lassen wollte. Sie war vorsichtig, fürchtete sich vor allfälligen Plünderern genauso sehr wie er.

„Ich bin Arzt und komme aus Frankreich. Wissen Sie, wo Frankreich liegt?“, fragte er im Konversationston.

   „Sí.“ Das eine Wort war zu kurz gewesen, um die Richtung ausmachen zu können. „Sie müssen mit mir reden, damit ich Sie finden kann!“ Verdammt, wenn ich mir eine Lampe mitgenommen und sie nicht vergessen hätte, wäre alles jetzt viel einfacher! So blieb ihm nur die Chance, ihr Vertrauen zu gewinnen. Ohne ihre Hilfe konnte er sie in den Trümmern lange suchen und gefährdete dabei vielleicht auch sich selbst. „Mein Name ist Pierre André. Vertrauen Sie mir. Ich will Ihnen wirklich nur helfen. Haben Sie keine Angst, ich tue Ihnen nichts. Sie müssen mir vertrauen!“

   „Sí, doctor“, kam zögernd ihre Antwort. „Aber ich habe Angst.“

   „Entiendo, señora, ich verstehe schon. Aber es geschieht Ihnen wirklich nichts. Helfen Sie mir, damit ich Sie finde. Reden Sie mit mir. Erzählen Sie mir etwas.“ Seine Stimme klang nun doch ein wenig entnervt und halb verzweifelt.

   Maola sah ein, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als sich in ihr Schicksal zu ergeben. Und eigentlich spielte es ja auch keine große Rolle. Schlimmer als jetzt mit einem elenden Tod vor Augen konnte es kaum werden. „Wo sind Sie jetzt, señor doctor?“

Pierre sah sich um. „Im Wohnzimmer? Glaube ich wenigstens, weil es das zentrale Zimmer ist, von dem viele Türen abgehen.“

   „Ungefähr in der Mitte des Hauses befindet sich ein Flur - jedenfalls war er da, bevor die Erde bebte. Wenn Sie ihn gefunden haben, sehen Sie auf der linken Seite eine Tür. In diesem Zimmer bin ich. Es grenzt direkt an den Wohnraum.“

André setzte sich in Bewegung. Er hatte die Ruine vermutlich durch die Küchentüre betreten. Von dort war er vermutlich in den Flur gelangt, von dem die Frau gesprochen hatte. Er wandte sich nach rechts.

   Während er vorsichtig über Mauertrümmer kletterte und durch kniehohe Schlammtümpel watete, erzählte sie: „Das Haus gehört... gehörte meinen Eltern. Ich kam her, um sie zu besuchen. - Mit meinem Mann. - Sie sind jetzt alle tot.“ Ihre Sätze waren abgehackt und klangen traurig. „Er sah das Unglück kommen und hat sich zum Schutz über mich gelegt, dann wurde er von der Decke erschlagen. Ich glaubte zuerst, sterben zu müssen vor Schmerz, weil ich lebte und er tot war. Dann kam das Wasser und dann der Schlamm. Und plötzlich wollte ich nicht mehr sterben. - Es ist unsinnig, nicht wahr?“

   „Aber weshalb denn? Jeder hängt an seinem Leben, das ist doch normal.“ Pierre hatte sich bis in den ehemaligen Flur vorgearbeitet. Jetzt stand nur noch ein Teil der Mauer, die auf beiden Seiten eingebrochen war.Vorsichtig tastete er sich der Mauer entlang, bis er zu seiner Linken den Eingang fand. Die Türfüllung war sehr stabil. Sie trug sogar noch die Verstrebung über den Stützpfeilern. Er trat ein. Ein paar Ratten stoben fiepend unter seinen Füßen auseinander. „Ich bin jetzt in Ihrem Zimmer“, sagte er.

„Von der Türe aus müssen Sie nach links an die gegenüberliegende hintere Wand gehen. Da in der Ecke bin ich. Aber seien Sie vorsichtig. Überall ist Schlamm.“

   „Er ist nicht tief.“

   „No. Aber was darin ist, ist gefährlich."

„Ich werde vorsichtig sein“, versprach er. „Erzählen Sie mehr von sich. Sie haben eine angenehme Stimme.“

   „Was soll ich denn erzählen?“, fragte sie. „Dass ich traurig bin? Dass ich mich nach meinem Mann sehne?“ Sie fühlte ihre Tränen hochschießen. Für einen Augenblick versagte ihr die Stimme, dann brach Maola in ein grelles Lachen aus. Es klang wie das Lachen einer Irren.

   André stutzte. Er hielt sie nicht für verrückt. Sie hatte völlig normal geklungen. Allerdings konnte er nicht von der Hand weisen, dass solche Erlebnisse jemanden sehr wohl um den Verstand bringen konnten.

   Er hatte die letzten Trümmer überklettert und sah die Frau nun vor sich liegen. Ihr Unterleib war unter eingestürztem Mauerwerk eingeklemmt, nur ihr Oberkörper war teilweise frei. Jetzt verstand er, wie sie die Schlammlawine hatte überleben können: Sie hatte sich, von der geborstenen Wand und vom Balken wie durch ein Wunder abgeschirmt, gerade noch über Wasser festklammern können. „Nicht weinen, es wird alles gut“, bat er, kniete sich nieder und beruhigte die schluchzende Frau, indem er sie wider besseres Wissen in die Arme nahm. Sein Beschützerinstinkt regte sich. Augenblicklich wurde sein Hemd durch den Druck ihres Körpers feucht und schmutzig.

   „Ich bin so froh, dass Sie mich gefunden haben, señor“, flüsterte sie. Ihre Stimme war angenehm warm, leicht dunkel und rauchig. In einer anderen Situation hätte er sie als erotisch empfunden. Die warme Luft ihrer Worte kitzelte an seiner Halsbeuge, während ihre verklebten Haarquaddeln sich wie kratzende Borsten anfühlten. Er konnte trotz allem erkennen, dass sie zumindest nicht hässlich aussah. Als wenn es eine Rolle spielen würde!, schalt er sich selbst einen Narren, er hätte sie auch so zu retten und ihr zu helfen versucht. „Wie groß sind die Schmerzen?“, fragte er leise, als sie aufhörte zu weinen.

   Sie zuckte die Achseln. „Ich kann nichts fühlen außer Kälte.“

   Er ergriff Maolas Hände und sah, dass sie aufgerissen und einige Nägel abgebrochen waren. Ihre Finger fühlten sich eiskalt an. Leichenstarr, dachte er. „Haben Sie Kraft genug, um so sitzenzubleiben?“, fragte er fürsorglich.

   Sie nickte. „Ich werde es schon schaffen."

André ließ die Frau vorsichtig los; sie blieb in aufrechter Stellung sitzen. „Gut. Dann will ich versuchen Sie zu befreien.“ Er schlüpfte aus dem Hemd und legte es ihr um die zitternden Schultern. Es bestand nur aus dünner Baumwolle und war kurzärmelig, aber es würde zumindest den Abendwind und damit ein paar Grade abhalten. „Es wird wahrscheinlich etwas länger dauern. Eigentlich bräuchte ich Hilfe, aber ich habe das Funkgerät verloren.“

   Maola nickte und beobachtete ihn nur stumm. Ihre Augen hatten sich ans Mondlicht so adaptiert, dass sie ihn recht genau ausmachen und selbst seine klaren Gesichtszüge erkennen konnte. Vorsichtig begann er, mit bloßen Händen die Trümmer über ihr zu entfernen, wälzte kleinere und zum Teil große, schwere Mauerteile und Dachbalken von ihren Beinen. Es war eine ungewohnte Rackerei, aber er gab nicht auf. Die scharfkantigen Bruchstücke rissen seine Haut auf, doch es war ihm egal. Trotz der Kälte der Nacht, die Luft hatte sich beträchtlich abgekühlt, begann er bald einmal zu schwitzen. Die junge Frau verhielt sich ruhig. Ab und zu entrang sich ihr ein leises Stöhnen. Sie hielt die Augen geschlossen und schien zu schlafen. Sie würde, dachte er, den Rest ihrer Kraft brauchen, um die sitzende Haltung beizubehalten.

   Die Zeit kam ihm endlos vor, bis er sie endlich aus ihrer Lage befreit hatte...