Im Dorf in den Alpen herrscht wegen dem momentanen Ausnahmezustand, der durch ein Virus ausgelöst wurde, kaum Weihnachtsstimmung. 

Dies ändert sich, als ein Unbekannter eine magische Weihnachts-Kristallkugel auf der Gemeinde hinterlässt, die das genaue triste Abbild des Dorfes darstellt. 

 

Eine Geschichte für alle, die gerne noch etwas in Weihnachtsstimmung kommen möchten oder einfach gerne Geschichten lesen. 

 

VIEL SPASS UND FRÖHLICHE WEIHNACHTEN

 

 

Die magische Weihnachts-Kristallkugel

 

 

In der kleinen Stadt in den Alpen nahte der erste Advent. Doch von Weihnachtsstimmung bemerkte man hier und andernorts kaum etwas. Und das lag nicht nur am mangelnden Schnee. Die ersten Lagen von Mitte November hatte die Sonne wieder weggeschmolzen.

Nur an vereinzelten Häusern leuchteten ein paar Lichterketten, Figuren an den Fensterscheiben oder in den Gärten. Mancherorts leuchtete es heller, wo wohl schon etwas mehr von der weihnächtlichen Vorfreude vorhanden war, andernorts etwas weniger. Völlig trist waren jedoch die meisten Häuser. An ihnen hing gar nichts und es war auch noch nichts dekoriert worden war, so dass man davon ausgehen musste, dass es wohl auch im Inneren der Menschen, die in ihnen wohnten, keine Weihnachtsstimmung gab.

 

Es lag eine bleierne Stille in der Nacht. Die Bewohner schliefen. 

Doch es war auch eine magische Nacht.

Ein Mann in einem Auto fuhr durch die Dunkelheit. Auf dem Beifahrersitz ein grosses Paket. Es war violett und besass oben auf dem Deckel eine grosse, ebenfalls violette Schleife.

Nicht einmal die Strassenlaternen, die noch vereinzelt brannten, beleuchteten das Gesicht des Mannes, der durch das nächtliche Dorf fuhr.

Vor dem Gemeindegebäude parkte er auf einem der dafür vorgesehenen Felder. Es stand weit und breit kein anderes Fahrzeug herum als seines. Die Türe machte keinen Lärm, als er ausstieg. Sein Blick unter der schwarzen Hutkrempe glitt hinauf an dem grossen Tannenbaum, der vor dem Gebäude stand. Die Gemeindearbeiter hatten ihn extra gefällt, um die Menschen im Dorf damit zu erfreuen und vielleicht in Weihnachtsstimmung zu bringen. Ein Brauch, wie sie es jedes Jahr taten. Doch um diese Zeit leuchtete er schon nicht mehr.

Es gab keine anderen Geräusche ringsum, nichts anderes ausser seinem Herzschlag. Noch nicht einmal die Schritte seiner Schuhsohlen auf dem Asphalt waren zu hören. Er lud die Geschenkkiste aus, stieg wieder ein und verschwand.

 

*

 

„Hallo, guten Morgen Sonnenschein. Heute wird wieder ein wunderbarer Tag mit 7 Stunden Sonnenschein. Geniesst das tolle Wetter, Leute. Denn wir wissen nicht, ob wir weisse Weihnachten kriegen!“, schmetterte Simon Lamb durch den Radiowecker ins Schlafzimmer. Er klang wie einer dieser aufgeweckten Frühaufsteher, die man an diesen tristen Tagen eigentlich lieber nicht hören wollte. 

Kate O’Brian blinzelte ins helle Licht der Nachttischlampe, räkelte und streckte sich, ehe sie sich aus dem Bett schälte, um zur Arbeit zu gehen. Sie war Gemeindeschreiberin und eine der wenigen Leute im Gemeindehaus, die sich auf Weihnachten freute. Nicht eigentlich auf dieses Weihnachten, denn dieses heuer würde nicht wie üblich werden.

 

Bereits seit dem Frühjahr befanden sie sich alle im Ausnahezustand, seit ein aggressives Virus die halbe Wirtschaft im Land lahmgelegt hatte. Nicht nur die Menschen in der kleinen Stadt, sondern überall im ganzen Land, begegneten sich mit Skepsis auf der Strasse, beim Einkaufen und auch während der Arbeit. Jeder fürchtete um seine eigene Gesundheit, dass er angesteckt werden könnte.

Anstelle von Weihnachten war das Wort Pandemie in aller Munde. Für die einen lief die Krankheit wie eine normale Grippe ab, für andere, vorwiegend ältere Menschen endete sie unter Umständen schlimm. Wiederum andere bemerkten überhaupt nicht, dass sie sich angesteckt hatten oder erst viel zu spät, wenn sie bereits Leute in ihrem Umfeld infiziert hatten.

 

Kate warf sich den Mantel über, schlang den Schal um den Hals und machte sich auf den Weg zur Arbeit. Es ging ein kühler Wind, der ihr den Atem nahm und ihre Locken zum Flattern brachte. Der Frost hatte sich über das Land gelegt. Es war knapp über Null Grad und um diese Zeit noch finster.

Kate liebte es, an diesen Morgen zur Arbeit zu gehen. Weil sie dabei am Haus von Susanna (Sanna) Maclaine vorbeikam.

Kaum war sie um das alte Schulhaus herum gebogen, sah sie es vor sich im hellen Lichterglanz von hunderten von kleinen Lämpchen strahlen. Im Garten neben dem Lauch stand ein grosses Rentier, das aussah, als hätte es sich zum Fressen eingefunden. Die ausladenden Äste des grossen Kirschbaums waren mit Lichterketten umwickelt, ebenso das Gerüst vom Rebstock. Lämpchen gab es auch auf Büschen, Sträuchern und Torbogen. Die ganze Hausfassade war wie von einem Vorhang aus Glühwürmchen bedeckt und oben über dem mittleren Fenster prangte ein riesiger, leuchtender Weihnachtsstern.

Kate lächelte glücklich vor sich hin. Es freute sie, dass Sanna Maclaine mit dem neuen Mann an ihrer Seite nicht nur ihre Lebensfreude, sondern auch die Magie von Weihnachten wiedergefunden hatte. Seitdem ging von diesem Haus jedes Jahr immer mehr Weihnachtszauber aus.

Es wirkte fast wie ein Lebkuchenhaus mit beleuchteter Fassade vor dem Eingang, bestehend aus einem weiteren Vorhang aus Lämpchen und Eiskristallen. Beidseits der Türe standen auf zwei Tischchen ein kleiner Nikolaus mit Schlitten und gegenüber beleuchtete Pakete und darüber prangten beleuchtete Tannäste mit farbigen Christbaumkugeln und kleinen Lämpchen. Auch die Rabattenumrandungen und nahen Sträucher erstrahlten im Lichterglanz.

Dieses Bild hatte einen so positiven Einfluss auf sie, dass Kate ein Weihnachtslied zu trällern begann, während sie den Weg aufwärts zum neuen Schulhaus in Angriff nahm.

 

Im Osten begann es zu tagen. Hinter ihr ging eine Lichterkette nach der anderen um Susanna Maclaines Haus wieder aus, bis Kate ihre Arbeitsstelle erreicht hatte. Ihre Wangen glühten von der Kälte und vom Aufwärtsgehen war ihr trotz dem bissigen Wind richtig warm geworden. Einzig die Fingerkuppen waren trotz der Manteltaschen von dem Frost beleidigt. Kate hob sie vors Gesicht und blies in die Hände, während sie die letzten Meter zurücklegte.

Beim Griff zurück in die Manteltasche, um den Schlüssel herauszuziehen, blieb ihr Blick überrascht an dem Paket haften, das jemand auf dem Fussabtreter vor der Türe abgestellt hatte. „Nanu? Was machst du denn hier?“

Es war gross, violett, mit einer grossen, violetten Schleife oben drauf.

„Wo kommst du denn her?“ Hinter Kate fuhr ein Wagen auf den Parkplatz vor dem Gemeindegebäude und sie bemerkte, dass sie laut mit dem Paket gesprochen hatte.

 

Tom Collins kam mit steifen, aber raschen Schritten auf sie zu. „Morgen, Kate“, grüsste er aufgekratzt. „Willst du nicht reingehen?“ Dann bemerkte auch er das Paket, vor dem sie stand. „Wow. Ist das für uns?“

„Keine Ahnung“, erwiderte sie kopfschüttelnd.

Er bückte sich in seinem langen Wintermantel. „Kein Zettel dran oder sowas?“

„Siehst du einen?“

„Auch keine Adresse. Komisch. Woher sollen wir dann wissen, für wen das ist?“

Kate machte entschlossen einen Schritt darüber hinweg, steckte den Schlüssel ein und schloss auf. „Bring es rein, dann sehen wir nach“, sagte sie, während sie die schwere Türe aufstiess und als erste an die Wärme schlüpfte.

 

Hinter ihnen wurde es langsam lebendig. Ein Fahrzeug nach dem anderen parkte auf den dafür angezeichneten Feldern und auch auf der Hauptstrasse begann der Verkehr.

 

„Mann, das ist ja echt schwer“, beschwerte sich Collins, als er das Paket mit beiden Armen hochhob.

Kate hatte die Türe wieder sausen lassen, weil die Kälte in den Raum gefahren war und es ihr zu lange dauerte, um auf ihren Kollegen zu warten. So musste sich Collins mit der Schulter dagegen stemmen, um die schwere Türe aufzudrücken, wofür er keine Hand frei hatte.

Die Lehrtochter Ibee kam ihm zu Hilfe, so dass er das Paket heil hinein bekam.

Er stellte es auf dem Tresen ab, damit er aus seinem Mantel schlüpfen und ihn an der Garderobe aufhängen konnte.

Kate stand bereits hinter dem Tresen und beäugte das Geschenk mit Argusaugen.

„Was ist das?“, kam auch Ibee auf sie zu. „Für wen wurde das abgegeben?“

„Keine Ahnung. Wir wissen auch nicht von wem.“

 

Einer nach dem anderen trudelten alle Angestellten im Gemeindehaus ein. Jeder stellte dieselbe Frage und gesellte sich neugierig zu ihnen. Schliesslich standen sie zu sechst um das geheimnisvolle Paket.

„Was machen wir jetzt damit?“, erkundigte Ibee sich, die ihre Neugier nicht länger im Zaum halten konnte.

Kate sah sie strafend an. „Wir wissen nicht, wem es gehört.“

„Wie sollen wir es herausfinden, wenn wir es nicht öffnen? Schliesslich ist es nicht angeschrieben“, bemerkte auch Martha Richi, die neben Ibee stand.

Collins hob auffordernd die Hände. „Kate, die beiden haben recht. Woher sollen wir es wissen?“

Aber sie zögerte. „Ich weiss nicht recht.“

„Bist du nicht auch neugierig, was da drin sein könnte?“

„Natürlich bin ich auch neugierig. Aber…“

„Herrje, es wird wohl keine Bombe drin sein!“ Entschlossen trat er näher, legte dann aber vorerst nur das Ohr an die Kiste, um sich zu vergewissern, dass sie vielleicht nicht doch tickte.

„Und?“

„Ich kann nichts hören.“

„Sei bloss vorsichtig, ja?“ Kate wich einen Schritt zurück, als er sich daran zu schaffen machte.

 

Seine Finger tasteten rundum den Rand nach Drähten ab, ehe er es wagte, während er darunter äugte, den Deckel vorsichtig zu heben. „Sieht gut aus“, stellte er fest.

Kate nahm ihm den Deckel über den Tresen hinweg ab und legte ihn hinter sich auf ihren Schreibtisch.

Neugierig äugten alle in die Kiste.

In ihr befand sich eine kleinere Holzkiste mit Eisenbeschlägen, mit denen man sie auf und zuschliessen konnte. Aber noch immer keine Nachricht vom Absender.

Von Neugier getrieben machte Collins auch diese Kiste auf.

Sie war mit dunklem Stoff ausgeschlagen.

„Was ist denn das?“ Mit gerunzelter Stirn machte er reichlich enttäuscht einen Schritt zurück.

„Wie hübsch. Eine Schneekugel“, rief Ibee erfreut.

Kate nahm sie vorsichtig aus der Kiste und drehte sie mit dem Glas nach oben.

Der untere Teil bestand aus Metall. Es gab schöne ziselierte Verzierungen, zwei ineinander fassende Zahnrädchen an der Seite und unten ein Uhrwerk mit einem Griff, an dem man es aufziehen konnte.  „Das ist ja komisch…“

„Was denn?“, meinte Martha, weil Kate sich selbst unterbrochen hatte.

„Diese kleine Welt da drin … Es sieht aus wie unser Dorf…“

„Was?“

„Doch. Seht doch.“ Sie hielt ihnen das Präsent so hin, dass alle von oben einen Blick darauf werfen konnten. „Die Kirche. Die neuen Häuser von Ross. Und hier, unser Gemeindehaus.“

„Sogar mit dem Tannenbaum“, bestätigte Ibee lächelnd.

„Sogar die Zeit auf der Kirchturmuhr stimmt mit unserer überein.“ Collins blickte die anderen fragend an. „Ist das nicht komisch?“

 

„Wer ist das hier?“ Ibee deutete auf die Schneekugel.

Vor dem Gemeindehaus befanden sich ein dunkelblaues Auto und eine weibliche Person, die dem Eingang zustrebte.

„Keine Ahnung. Hat jemand von euch eine Lupe?“

„Ja ich. Auf dem Schreibtisch“, nickte Collins.

„Ich hole sie“, anerbot Ibee sich schnell.

„Hei, Kate, was für ein Rätsel ist das?“

Die junge Frau blickte in leicht verärgerte dunkle Augen. Achselzuckend schüttelte sie auf Toms Frage den Kopf. „Woher soll ich das wissen?“

„Hier ist sie.“ Ibee bog um den Tresen und streckte ihr die Lupe entgegen. „Wer ist es?“

Kate starrte durch die Lupe. „Ich bin mir nicht sicher.“

„Zeig her.“ Collins machte selbst einen Versuch.

 

Martha äugte ihm über die Schulter. „Ich weiss, wer das ist.“

„Ja?“ Überrascht wandten sich alle Augenpaare ihr zu. 

Sie nickte ernsthaft. „Das ist Susanna Maclaine."

Ibee runzelte die Stirn. „Wer ist das?“

„Na, die Verrückte da unten mit ihrer vielen Weihnachtsbeleuchtung“, spottete Collins, während er die Schneekugel an Kate O’Brian zurückgab.

„Gefällt dir das nicht?“, erkundigte sie sich überrascht.

Er schüttelte den Kopf. „Ein bisschen übertrieben, findest du nicht?“

Sie lächelte ihn spöttisch an. „Nein, gar nicht. Durch sie komme ich jeden Morgen in Weihnachtsstimmung.“

„Warum ist sie da drin?“, fragte Ibee enttäuscht. „Und warum hat sie das Paket nicht gekriegt?“

„Keine Ahnung.“

„Was machen wir jetzt damit?“

„Weiss ich auch nicht.“

„Ich hätte sie gern genommen. Aber wenn sie da drin ist…“, erwiderte Ibee frustriert.

Kate zuckte mit den Achseln. „Vielleicht hat das ja irgendetwas zu bedeuten?“

Collins schüttelte verärgert den Kopf, der sich eigentlich schon auf ein anständiges Geschenk für sie alle gefreut hatte. „So ein Blödsinn! Wahrscheinlich hat die Ähnlichkeit gar nichts zu bedeuten und es ist einfach nur eine Puppe!“

„Das ist auch Sannas Auto. Sie fährt genau diesen Typ“, widersprach Martha.

„Vielleicht sollten wir sie ihr geben“, schlug Ibee vor.

„Meinetwegen macht mit dem Ding, was ihr wollt!“ Collins winkte grantig ab und verzog sich nebenan in sein Büro.

 

„Ich möchte mal hören, wie sie klingt“, forderte Martha ihre Vorgesetzte auf.

Ibee nickte strahlend. „Ja, ich auch.“

„Ich auch“, lächelte Kate. Sachte drehte sie an dem kleinen Griff. Er sah auf seinem Stängel dünn und zerbrechlich aus.

Die Zahnrädchen an der Seite und auch das mechanische Uhrwerk an der Unterseite begannen sich zu bewegen und zu drehen. Und plötzlich erklang der Song Christmas Comes To Us All, Weihnachten kommt zu uns allen aus dem kleinen Gerät.

„Wie schön!“ Ibee klatschte vor Freude in die Hände.

„Macht das Ding wieder aus!“, rief Collins aus dem Hinterzimmer verstimmt.

Martha schüttelte den Kopf. „Das geht nicht. Das Räderwerk geht sonst kaputt.“

„Wenn’s wenigstens was Anständiges wäre!“, beschwerte er sich.

„Das wirst du jetzt schon aushalten müssen, bis es fertig ist“, grinste Kate belustigt. Sie stellte die Spieluhr auf den Tresen und brachte die Schachtel nach nebenan.

Danach nahm der Tag seinen ganz gewöhnlichen Gang.

 

*

 

Jedenfalls fast. Denn die Uhr an der Kirchturmuhr lief weiter, obwohl der Song aus war und das Räderwerk eigentlich stillstand…

 

Um Mitternacht drehten sich die Zeiger um sich selbst und schlugen dann zur vollen Stunde.

Aus dem Zifferblatt strahlte blaues Licht, das durch das ganze Gebäude und sogar bis auf die Strasse hinaus drang.

Blitze schossen von einem wolkenlosen, mit Sternen übersäten Himmel.

 

Sanna Maclaine wälzte sich in ihrem Bett herum. Ihre engelsblonden Locken kringelten sich auf den aufgewühlten Kissen. In ihrer Miene arbeitete es. Sie hatte sichtlich einen Traum, eine Eingebung oder eine Erkenntnis.

 

Nach wenigen Augenblicken war der Spuk vorbei.

Sanna seufzte zufrieden auf und fiel in tiefen Schlaf.

Der Himmel war wieder mit lauter Sternen bedeckt.

Und das blaue Licht von der Kirchturmuhr verschwand hinter dem weissen Zifferblatt.

Es kehrte Ruhe ein und die Nacht verlief wie alle anderen in diesem Dorf.

 

***

 

Auch der neue, nächste Tag begann wie jeder andere vor ihm.

Im Gemeindehaus kehrten die Angestellten zur Arbeit ein wie sonst. Die kleine Spieluhr der Schneekugel blieb diesmal unberührt, weil Tom Collins ihre Melodie nicht mochte.

„Was machen wir denn jetzt damit?“, erkundigte sich Ibee nach ihrer Ankunft, als sie davor stehenblieb.

„Meinetwegen bring sie runter zur Weihnachtsfrau!“, spottete Collins müde. Man sah ihm an, er hatte eine schlechte Nacht verbracht.

„Noch ein bisschen Musik?“, spottete Kate belustigt, um den Griesgram noch etwas aufzuziehen.

Collins winkte mit verbissener Miene ab. „Bitte nicht. Ich schlage mich sonst schon genug mit meinen Kindern wegen Weihnachten herum. Die wollen nicht einsehen, dass es keinen Santa gibt und warum heuer der Klausentag ausfällt!“

 

„Wieso sollten sie?“ Die Türe war aufgegangen und sie hatten es nicht bemerkt. Mit Sanna Maclaine drang mit der Zugluft auch die winterliche Kälte in den Raum. „Weihnachten ist doch etwas Schönes. Warum sollten Ihre Kinder nicht an die Magie von Weihnachten und den Santa Claus glauben?“

„Weil Weihnachten überbewertet wird und es ein Individuum wie den Weihnachtsmann nicht gibt!“, kam er mit rollenden Augen aus seinem Büro geschossen.

Sanna lächelte ihn gewinnend an. „Guten Morgen, Mr. Collins. Guten Morgen miteinander.“

„Guten Morgen, Mrs. Maclaine“, wurde auch sie von allen Seiten begrüsst.

„In der Kindheit an den Weihnachtsmann zu glauben, Mr. Collins, ist ein Privileg, das Sie Ihren Kindern nicht nehmen dürfen. Die Weihnachtszeit ist die Zeit der Wunder. Aber vor allem ist es die Zeit der Magie. Die Zeit, sich alles wünschen und an alles glauben zu dürfen, was man will.“

„Wenn Sie Ihren Kindern das so beigebracht haben, dann ist das Ihre Sache, Mrs. Maclaine, aber…“

„Oh ja, natürlich. Meine Kinder glauben beide an den Weihnachtsmann. Nehmen Sie Ihren das nicht weg. Denn dann verbieten Sie ihnen auch, an die Erfüllung ihrer Wünsche zu glauben…“

„Wünsche erfüllen sich nicht einfach! Man muss hart dafür arbeiten!“

Sie nickte, aber sie behielt ihr Lächeln trotzdem bei. „Das auch. Aber glauben Sie mir, Mr. Collins, ich bin das beste Beispiel dafür, dass Wünsche in Erfüllung gehen können. Man muss nur fest genug daran glauben. Sie aussprechen. Sie sich wünschen. Und überhaupt erst Wünsche haben.“

„Das reicht!“

„Ihre Kinder werden Sie lieben, wenn Sie ihnen vom Weihnachtsmann erzählen.“

„Sie lieben mich auch ohne dass ich Ihnen vom Weihnachtsmann erzähle!“, erwiderte er schroff.

Sannas Mundwinkel hoben sich zu einem noch breiteren Lächeln als zuvor. „Sie werden Sie noch mehr lieben. Glauben Sie mir, Mr. Collins. Versuchen Sie es nur und Sie werden für Ihre Kinder der beste Vater der Welt sein.“

 

„Was kann ich für Sie tun?“, erkundigte sich Kate O’Brian, während Collins wutschnaubend in seinem Büro verschwand. Sie hatte sich nach vorne an den Tresen gestellt und lächelnd dem Schlagabtausch der beiden gelauscht.

„Nun, ich bin mir nicht sicher…“ Sanna wechselte ihre Handschuhe von der einen Hand in die andere. „Eigentlich wollte ich fragen, was… was ich für Sie tun kann?“

„Das ist merkwürdig. Gestern hatten wir noch von Ihnen gesprochen und dann…“ Martha blickte überrascht von Sanna Maclaine auf die Schneekugel auf dem Tresen.

Sanna folgte ihrem Blick. „Oh. Was habt ihr denn da Hübsches? Darf ich?“

„Bitte.“

Kate machte eine entsprechende Geste, so dass sie die Handschuhe auf dem Bord unter dem Tresen ablegte und die Kristallkugel in die Hände nahm.

„Wow. Das ist ja unser Dorf“, entfuhr es Sanna. Ihre Augen wanderten über die kleinen Häuschen, die Kirche und die winzigen Figürchen. Vor dem kleinen Gemeindehaus mit seinem Tannenbaum und dem blauen Auto blieb ihr Blick wie magisch angezogen hängen. „Das bin ja ich!“, rief sie überrascht aus. Sie hielt die Schneekugel nur mit einer Hand, damit sie an sich hinuntersehen konnte. „Sie hat dieselben Sachen an wie ich!“

„Eigenartig, nicht?“ Collins war wieder aus seinem Versteck getreten, hatte sich sicherheitshalber aber nur in den Türrahmen zu seinem Büro gestellt.

Sanna nickte. „Die Ähnlichkeit ist verblüffend. Wo haben Sie die her?“

Kate zuckte die Achseln. „Sie stand gestern in einem Paket vor unserer Tür. Wir haben uns schon gefragt, ob sie Ihnen gehört?“

„Nein.“ Mit einem kleinen Lachen schüttelte Sanna den Kopf. „Sie gefällt mir, ohne Frage…“

„Dann nehmen Sie sie mit, damit das Teufelszeug hier nicht mehr rumsteht!“, schlug ihr Collins hocherfreut hastig vor.

„Oh nein, es ist ein richtiges Kunstwerk. Sehen Sie?“ Sanna war ganz versunken in das kleine Abbild ihrer Gemeinde, in der sie nun schon seit 15 Jahren wohnte. „Sehen Sie.“ Sie deutete auf eine Stelle auf der Kugel, während sie sie Kate O’Brian wieder näher hielt. „Da in der Schule. Im Kindergarten wird gesungen und gebastelt.“

 

Plötzlich ging die Musik wieder los, ohne dass sie an dem kleinen Griff gedreht oder sonst etwas gemacht hatte. Christmas Comes To Us All, Weihnachten kommt zu uns allen klang es aus der Spieldose.

„Was haben Sie gemacht? Warum haben Sie das Ding eingeschaltet?“, beschwerte Collins sich mit rüdem Ton.

„Aber das habe ich nicht! Ich habe gar nichts gemacht!“ Sanna stellte die Kristallkugel hastig zurück auf den Tresen.

„Ich sage ja, Teufelszeug! Nehmen Sie sie mit!“ Collins verdrehte die Augen und schlug die Türe zu seinem Büro zu.

„Ein hübsches Lied“, bemerkte Sanna höflich. „Aber ich habe wirklich nichts gemacht.“

„Nein, ich weiss. Es ist wirklich merkwürdig“, kam ihr Kate O’Brian nickend zu Hilfe. „Wir wissen wirklich nicht, was es mit dem Ding auf sich hat. Sehen Sie? Die Uhrzeit zeigt auch unsere echte Zeit an…“

„Wie lustig.“

„Das findet Tom überhaupt nicht.“

Sanna lächelte. „Vielleicht liegt es daran, weil er Weihnachten nicht mag?“

„Kann schon sein.“ Kate lächelte zurück. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

 

„Wie gesagt…“ Sanna unterbrach sich. Eigentlich hatte sie nochmals darauf hinweisen wollen, dass sie es selbst nicht wusste. Dass sie hergekommen war in der Erwartung, dass man auf der Gemeindeverwaltung etwas von ihr wollte. Doch plötzlich wusste sie es einfach, der Gedanke war plötzlich einfach da, was sie zu tun hatte.

„Ich hatte einen Traum“, begann sie. „Ich möchte mit den Kindern in der Schule basteln. Wäre das möglich?“

„Nun ja…“, antwortete O’Brian gedehnt. „Grundsätzlich ist es schon möglich. Halt nur unter Einhaltung der Hygienevorschriften und der Abstandsregel.“

Sanna nickte. „Das ist kein Ding, natürlich. Wann kann ich anfangen? Bis Weihnachten ist noch viel zu tun.“

„Sie verlieren keine Zeit, was?“ Martha lachte.

Sanna schüttelte den Kopf. „Nein. Nicht bei so wichtigen Dingen wie Weihnachten. Könnten Sie mich gleich anmelden?“

Kate nickte. „Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.“ Sie ging zu ihrem Schreibtisch, hob den Hörer ab und wählte eine Nummer.

 

Als sie sich nach Sanna umdrehte, nickte sie. Sie legte den Hörer wieder auf die Station zurück und trat wieder zu ihr an den Tresen. „Um halb zwei heute Nachmittag. Sie fangen mit dem Kindergarten an. Bella Brown wird Sie erwarten und einweisen.“

„Gut. Toll. Herzlichen Dank.“ Sanna strahlte über das ganze Gesicht, als sie ihre Handschuhe wieder aufnahm und sich zum Gehen wandte.

„Vergessen Sie die Weihnachtskugel nicht“, wurde sie von Kate O’Brian ermahnt.

„Oh. Ja. Natürlich. Gerne. Vielen Dank. Frohe Festtage.“

„Ihnen auch, danke. Auf Wiedersehen“, wurde sie verabschiedet, als Sanna schliesslich mitsamt der schweren Kiste und der Schneekugel die Gemeindeverwaltung verliess.

 

„Ist sie endlich weg?“, erkundigte sich Tom Collins durch den Türspalt.

Kate und die anderen Frauen drehten sich mit spöttischem Lächeln zu ihm um. „Wen meinst du, Tom? Mrs. Maclaine oder die Kugel?“

„Ich würde sagen beide“, kicherte ihr Martha verschwörerisch zu.

Collins bewarf sie mit verärgerten Blicken. „Frauen!“, fauchte er und verzog sich wieder zurück in sein Büro.

„Sie benahm sich wirklich ein bisschen komisch“, bemerkte auch Ibee.

Doch Kate lächelte. „Wie es scheint, liebt sie Weihnachten einfach. Aber es ist doch okay so. Die Lehrer werden entlastet und es wird die Kinder freuen. Was soll daran nicht gut sein?“

Martha kam ihr zu Hilfe: „Ich finde es jedenfalls eine tolle Idee, wenn sie sich in der Gemeinde einsetzt. Die Kinder werden es lieben. Ich wünschte, meine Eltern hätten damals mit uns gebastelt.“

„Na ja, noch wissen wir ja nicht, was daraus werden soll“, wiegelte Kate ab, um sie vor zu grossen Erwartungen zu warnen. „Aber wir werden sehen.“

 

*

 

Sanna war pünktlich um halb zwei in der Schule. Und sie nahm die alte Schneekugel mit. Dass sie alt und dadurch kostbar war, davon war sie überzeugt. Gleichwohl fand sie es richtig, sie mit zu den Kindern zu nehmen und, wenn diese es wünschten, sie auch die Melodie darauf hören zu lassen.

Bella Brown war eine ältere schlanke Frau, die der Gemeinde als Kindergartenlehrerin schon viele Jahre diente. Sannas eigene Kinder waren zu ihr in den Kindergarten gegangen, so dass es nicht an gegenseitigem Einvernehmen mangelte.

Bella Brown führte sie ins Werkzimmer, wo ihre Schützlinge bereits auf sie warteten. Sie schnatterten durcheinander und einige hatten bereits begonnen zu spielen. Die Lehrerin klatschte in die Hände, um Ruhe zu verlangen.

Augenblicklich wurde es still und sämtliche Köpfe drehten sich nach den Ankömmlingen um. Insbesondere Sanna Maclaine brachte sie zum Tuscheln: „Wer ist das? Was will die hier?“

 

Susanna lächelte ihnen zu. „Hallo, Kinder, ich bin Sanna und ich bin heute hier, um eure Lehrerein Miss Brown zu unterstützen. Wie wäre es, wenn wir heute Weihnachtsbaumschlangen basteln würden? Die könnt ihr dann überall drinnen und draussen aufhängen und eure Umgebung damit verschönern.“

„Ou ja, toll! »

Die Kinder nickten und klatschten. Sie waren sofort Feuer und Flamme, bei so etwas mitzumachen.

Und Sanna freute sich, dass sie das mit ihnen tun durfte.

 

*

 

Nur einer hatte keine Freude daran, als er am Abend nach Hause kam und sein Haus in neuem Licht erstrahlt vorfand. Mit kreidebleich und wutverzerrtem Gesicht knallte Tom Collins die Autotüre zu.

„Mark! Claudia! Was soll denn das hier?“

Die beiden waren noch daran, die Umgebung fertig zu schmücken.

Ihr Vater zeigte auf die weihnächtliche Dekoration seiner Kinder, die diese voller Freude draussen am Verandageländer und den Stützpfosten vom Dach angebracht hatten.

Claudia strahlte ihn an. „Das haben wir in der Schule gebastelt. Mit Sanna. Ist es nicht toll, Dad?“

„Gefällt es dir, Dad?“, wollte auch Mark strahlend wissen.

Doch die Freude der Kinder färbte nicht auf Collins ab. Mit finsterer Miene schüttelte er den Kopf. „Nein! Es gefällt mir nicht! Nehmt es sofort wieder runter!“

„Aber…“ Den Kindern blieb vor Enttäuschung der Mund offen stehen. „Mom hat es uns erlaubt…“

„So, hast du?“ Tom warf seiner Frau Silvie einen scharf rügenden Blick zu.

Diese zuckte lediglich entschuldigend mit der Achsel.

„Wir haben uns doch schon x-mal über dieses Thema unterhalten! Ich will sowas in meinem Haus nicht haben!“, donnerte er.

„Aber alle haben jetzt sowas“, protestierte Mark.

„Wir haben uns so Mühe gegeben. Bitte, Dad.“

„Sie haben sich wirklich so sehr darauf gefreut, Tom“, kam ihnen auch Silvie zu Hilfe.

Doch Collins‘ Miene blieb eisern und sein Wille beinhart. „Kommt nicht in Frage! Weg mit dem Zeug! Wenn ihr es nicht runter nehmt, mache ich es! Und dann landet es im Müll, wo es auch hingehört!“

„Aber, Dad!“

„Papperlapapp! Keine Widerrede!“ Er machte auf dem Absatz kehrt, als die Kinder mit lautem Geschrei zu weinen anfingen und sich in die ausgebreiteten Arme ihrer Mutter flüchteten.

„Ich habe noch zu arbeiten!“, knurrte er unleidlich und verschwand.

Er liess Silvie verzweifelt mit ihren Kindern allein zurück, der nun die unliebsame Aufgabe zukam, sie nochmals anzuhalten, ihr schönes Werk wieder zu entfernen. Wie kann man nur so hartherzig sein!, dachte sie betrübt.

 

***

 

„Oh!“ Sanna Maclaine staunte nicht schlecht, als nach dem Aufstehen ihr Blick an diesem neuen Morgen im Vorübergehen auf die Kristallkugel fiel. Überrascht blieb sie stehen und schaute genauer hin. „Wow! Das ist es also“, entfuhr es ihr.

 

*

 

Sanna nahm sich keine Zeit für eine richtige Begrüssung. Sie trug die Kristallkugel bei sich, als sie durch die Türe ins Gemeindehaus trat und gleich mit ihrer Erklärung loslegte: „Leute, ich weiss jetzt, was diese magische Kugel bei uns soll!“

Die Angestellten hinter dem Tresen drehten sich alle neugierig nach Sanna um.

Selbst Collins kam nach vorne bis an den Türrahmen seines Büros. Seine Neugierde war grösser als der Ärger auf sie, den sie ihm mit ihrer Bastelei mit den Kindern verursacht hatte.

Sanna strahlte übers ganze Gesicht vor Freude. „Ich war doch gestern zum ersten Mal mit den Kindern in der Schule basteln. Und schwupps, über Nacht sieht es in der Kugel so aus!“

Martha, Ibee und Kate eilten zu ihr an die Theke.

Sanna stellte die Kristallkugel auf die Ablage, so dass alle einen Blick darauf werfen konnten.

Auch den drei Frauen blieben die Münder offen.

„Unglaublich!“

„Wow!“

„Das gibt’s doch nicht!“, entfuhr es ihnen überrascht.

Ihre Ausrufe lockten nun sogar den mürrischen Collins heran.

 

Sanna grinste, lenkte ihre Aufmerksamkeit jedoch sofort wieder auf das Spielzeug vor sich. „Ich glaube, es geht um die fehlende Weihnachtsstimmung in unserem Dorf. Darum, dass wir trotz der Krise den Mut nicht verlieren und an das Gute glauben sollen!“

„Ja, das ich auch wirklich nicht leicht“, bestätigte Ibee traurig, die aus eigener Erfahrung von befreundeten Familien wusste, wie schwierig die gegenwärtige Lage für sie war.

„Es hebt aber wirklich die Stimmung, dies hier zu sehen“, gab Martha Sanna recht.

 

„Worum geht’s denn da?“, erkundigte Collins sich, weil ihm die Frauen den Blick auf die Kugel versperrten und er seine Neugierde nicht länger bezähmen konnte.

Kate trat mit einem spöttischen Grinsen beiseite.

„Hei, Tom, man sieht, dass bei euch noch kein Weihnachtsschmuck hängt“, nahm Martha ihn hoch.

„So ein Blödsinn! Sowas mache ich nicht! Da mache ich nicht mit!“

„Ihre Kinder waren aber gleich Feuer und Flamme und mit Feuereifer dabei. Wie schade. Die armen Kleinen. Ich hoffe, Sie haben den Kindern ihre Überraschung in Ihrer Verbohrtheit nicht kaputt gemacht?“

Sannas Stimme klang so vorwurfsvoll, dass er tatsächlich kurz ins Schleudern geriet und vor Verlegenheit die Augen niederschlug, ehe er sich wieder in der Hand hatte. „Natürlich nicht! Was wäre ich dann für ein Vater?“, fauchte er gehässig zurück.

Sanna lächelte spöttisch. „Was sind Sie jetzt für ein Vater, wenn sie ihre Kunstwerke nicht aufhängen und zeigen dürfen?“

„Oh, diese Frau!“, stiess er mit geballten Fäusten grollend zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Lassen Sie mich und meine Familie und Erziehungsmethoden einfach in Ruhe! Ein für alle Mal! Verstanden?“

Sanna lächelte weiterhin. Sie war sicher, dass die Ereignisse in der Kugel irgendwann auch Auswirkungen auf Tom Collins und seine Abwehr haben würden. „Keine Angst, ich werde Sie nicht weiter damit belästigen, mein Freund.“

Er warf ihr einen giftspeienden Blick zu. Selbst ihre höfliche Bestätigung, dass sie ihn in Ruhe lassen würde, brachte seine Galle zum überkochen. Seiner Meinung nach war es lediglich eine neuerliche Provokation, um ihn auf die Palme zu bringen. Er ahnte ja nicht, wie recht er damit hatte.

Das wurde ihm erst klar, als sich Sanna wieder seinen Kolleginnen zuwandte und schmeichelnd meinte: „Ich muss jetzt in die Klasse. Ich lasse sie euch hier. Ihr werdet sehen, es wird noch besser.“

„Nein, sicher nicht!“, wehrte er hastig ab. Er war bereits rot vor Wut im Gesicht.

Kate O’Brian schüttelte verständnislos den Kopf gegen ihn. „Nun hab dich nicht so, Tom! Man muss sich deiner ja fast schämen!“, rief sie ihn zur Räson. „Selbstverständlich behalten wir die Kugel hier. Sie können Sie jederzeit wieder abholen kommen, Sanna.“

Diese nickte mit einem freudigen Grinsen. „Vielen Dank. Dann bis dann. Fröhliche Weihnachten.“ Zum Jux winkte sie ihm auch noch spöttisch zu.

Collins verschwand in seinem Büro und knallte die Türe zu.

 

***

 

Ihre Freude an Weihnachten war wirklich ansteckend.

So wurden die Häuser mit jedem Tag bunter und weihnächtlicher. Und dies wiederum animierte die Menschen, noch mehr Lichterketten und noch mehr Dekorationen aufzuhängen.

Das Dorf entwickelte sich zu einer richtig schönen kleinen Weihnachtsstadt.

 

Und ebenso veränderte sich das Dorf in der Weihnachts-Kristallkugel, die Susanna Maclaine wohlwissend wieder bei Kate O’Brian auf der Gemeinde gelassen hatte. Die Kristallkugel gab jeden Tag das genaue Ebenbild des Weihnachtsdorfes wieder. So war auch unverkennbar, wen die Weihnachtsstimmung erfasst hatte und wen nicht.

Und ebenso blieb es unausweichlich, dass Tom Collins von da an damit ständig aufgezogen wurde:

„Tom, du hast immer noch keine Weihnachtsdeko an deinem Haus!“

„Tom, du bist schon fast der letzte, der noch immer keine Weihnachtsdeko hat!“, wurde er von seinen Frauen im Gemeindehaus geneckt.

„Sag, bist du es nicht schon lange leid, der letzte Langweiler in unserer schönen kleinen Stadt zu sein?“

„Was sagen denn deine Kinder dazu, wenn sie sehen müssen, was im Dorf alles vor sich geht und wie schön alles geschmückt ist?“

„Und du ihnen aber alles verbietest? Wirst du zuhause noch geliebt oder nur noch geduldet?“

 

Als dann auch noch der Bürgermeister auf ihn zukam und ihn darum anhielt, kam er nicht mehr umhin, zumindest öffentlich klein beizugeben und sich den weihnachtsfreudigen Dorfbewohnern anzuschliessen.

Nicht, dass er sich selbst am Weihnachtsschmuck vergriffen hätte. Das überliess er lieber seiner Frau Silvie und den Kindern, die sofort nach seiner Einverständniserklärung mit Hingabe daran gingen, das ganze Haus in- und auswendig zu dekorieren und zu schmücken. An Dekorationsmaterial mangelte es ihnen nicht, denn Sanna hatte weiter mit ihnen Baumschmuck, Girlanden und Christbaumkugeln gebastelt und sie Tannenzapfen mit Schneespray besprühen lassen.

Nur Collins konnte sich an all dem nicht erfreuen. In seinem Inneren kochte es.

 

***

 

Doch damit waren Susanna Maclaines Ideen noch lange nicht ausgeschöpft. Als nächstes brachte sie auf der Gemeinde die Idee, von allen Bürgern die Emails aufzulisten und diese Liste dann an alle Einwohner zu verteilen.

Ihr Gesicht glänzte und sie sprühte förmlich über vor Enthusiasmus, als sie ihnen den Grund dazu erläuterte: „…damit diejenigen, die es wollen, miteinander per Chat oder Skype kommunizieren können. Dann würden sie sich über die Feiertage nicht ganz so einsam fühlen. Wer nicht will, braucht ja nicht ranzugehen. Aber wer will und es braucht, sollte es tun können, auch wenn es nur ein Gruss ist oder ein liebes Wort. Es wäre sicherlich eine tolle Chance für einige, mit den Leuten in der Gemeinde vernetzt zu bleiben und so Kontakt zu halten. Damit niemand in diesen Tagen vereinsamen muss.“

Ihre Euphorie wirkte auch hier ansteckend. Auch dieser Vorschlag fand auf der Gemeinde und dann im Volk Akzeptanz und Zustimmung und wurde schon vor den Feiertagen reichlich benutzt.

 

Auch für den Ausfall des Klausentags hatte Sanna eine Lösung parat.

Der Nikolaus am 6. Dezember kam virtuell zu den Kindern per Internet. Ein Geschenk fanden sie dann nach dem Fersli aufsagen vor der Haustüre vor.

 

***

 

So fand doch noch jeder zu seiner Weihnachtsstimmung. Und Collins Kinder wohl oder übel zurück zum Glauben an den Weihnachtsmann.

Selbst Tom Collins fand endlich seine Weihnachtsstimmung wieder. Denn ausgerechnet auf seinem Dach landete der Schlitten mit dem Weihnachtsmann.

Die Kinder erwachten vom Gepolter, das die Hufe der Rentiere und der Schlitten beim Aufsetzen verursachten. Ihnen war sofort klar, dass dies nur eine Ursache haben konnte.

Mark stürmte so schnell wie er konnte nach draussen.

Während ihr Bruder dort wie angewurzelt stehenblieb, weil er es gleichwohl fast nicht fassen konnte, rüttelte das Mädchen an den Schultern ihres schlafenden Vaters. „Dad, komm mit! Das musst du dir ansehen!“

„Hei, Tom! Wach auf! Was ist das?“ Auch Silvie war erwacht und schlüpfte in ihren Bademantel.

Schlaftrunken richtete er sich auf den Unterarm auf. „Was ist denn, Claudia?“

„Es erhob sich ein Gepolter.“

Collins blickte verwirrt in das aufgewühlte Gesicht seiner Tochter. „Was willst du damit sagen?“

„Na, der Lärm. Aus dem Santa Claus-Film! Beeil dich, Dad, sonst verpasst du ihn noch!“ Kaum ausgesprochen, schoss das Mädchen an ihm vorbei gegen die Haustüre.

„Was ist?“

„Etwas Unheimliches, Tom. Die Kinder glauben, es ist der Weihnachtsmann“, rief sie ihm über die Schulter zurück zu, indes sie den Kindern hinterher lief, um sie vor einer allfälligen Gefahr zu schützen. 

Etwas ungelenk stolperte Collins in seinen Pyjamahosen und der Jacke hinter ihnen her nach draussen in den Garten. Der Schnee stand knöchelhoch und rieselte ihm kalt in die Pantoffeln.

 

Mark deutete mit glänzenden Augen und ausgestreckter Hand nach oben.

Toms Augen weiteten sich vor Überraschung und sein Mund klappte auf. Der Unterkiefer fiel ihm herab, er konnte gar nichts dagegen tun. Für zwei Sekunden hatte er das Gefühl, blieb ihm das Herz stehen.

„Oh mein Gott! Santa! Der Weihnachtsmann! Es gibt ihn wirklich!“, stotterte er verblüfft, nachdem er die Sprache wiedergefunden hatte. „Sein Schlitten ist auf unserem Dach!“ Er begann vor lauter Aufregung fast zu quietschen.

Sein Sohn Mark legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. „Ist schon gut, Dad, beruhige dich. Du hast einfach nur das Kind in dir verdrängt.“

 

Sie drehten sich alle hastig um, weil ein Geräusch drinnen sie herumfahren liess.

Dort stand der Weihnachtsmann mit seinem grossen Sack im Wohnzimmer und legte ihnen die Geschenke unter den Weihnachtsbaum.

Im nächsten Augenblick befand er sich aber schon wieder auf dem Dach bei seinen Rentieren, legte den Sack auf den Rücksitz und stieg in den Schlitten.

Tom eilte über die Veranda ums Haus herum, um den Abflug nicht zu verpassen. Sein Blick war nach oben auf den Weihnachtsmann gerichtet. So übersah er den tiefhängenden Dachbalken. Er schlug ihm gegen die Stirn und riss ihn von den Füssen. Mit einem Platsch landete Collins bewusstlos rücklings im Schnee, während die Rentiere mit dem Schlitten abhoben, um auf dem nächsten Dach zu landen.

 

*

 

Auch Sanna wurde geweckt, nämlich von der magischen Kristallkugel mit der Melodie Santa Claus Is Coming To Town.

Sie war aus unerklärlichen Gründen an diesem Abend auf dem Sofa eingeschlafen.

Als sie die Augen aufschlug, stand der Weihnachtsmann in ihrem Wohnzimmer. Er hatte eben ein letztes Paket unter den Christbaum gelegt.

„Hohoho“, sagte er, indes er sich aufrichtete und zu ihr umdrehte. „Fröhliche Weihnachten, Sanna.“

„Fröhliche Weihnachten, Santa.“ Sie schälte sich unter der Decke hervor und stand auf. Ungläubig schüttelte sie den Kopf, aber sie strahlte. „Unglaublich. Ich freue mich sehr. Es gibt dich doch!“

„Hast du etwa gemeint nicht?“

„Ich bin doch schon dreissig.“

„Jaja, die Welt glaubt nicht mehr wie früher“, nickte er.

„Das tut mir so leid. Aber es ist schön, dass ich mich getäuscht habe.“ Sie trat an die Kommode, nahm dort die magische Kristallkugel an sich und streckte sie ihm entgegen. „Das hier gehört wohl dir, Santa Claus. Ich nehme an, du willst sie wiederhaben. Sie hat ihren Zweck hier erfüllt und das Wunder vollbracht.“

„Ja ja, Weihnachten ist eine Zeit der Magie. Da können Wunder passieren.“ Er lächelte ihr zu, während er die Schneekugel mit seinen behandschuhten Händen zurücknahm.

„Ich danke dir, Santa Claus. Dafür, dass ich mithelfen durfte, dieses Wunder zu vollbringen. Es war ein tolles Gefühl zu helfen. Und das schönste, erfüllendste Weihnachten, das ich je hatte. Ich danke dir für dieses Geschenk. Ich werde es auf ewig in meinem Herzen tragen. Ich bin sicher, auch die Kinder werden dich nie vergessen.“

„Und unser gemeinsamer Freund Tom“, grinste er verschmitzt. Er betrachtete die magische Kugel, die anstelle einer trostlosen kleinen Stadt nun eine kleine richtige Weihnachtsstadt zeigte, dekoriert mit Tannenzweigen, Weihnachtssternen, Baumkugeln und geschmückt mit abertausenden von kleinen Lämpchen. Eine richtig kleine magische Stadt.

„Frohe Weihnachten, Sanna.“

„Das wünsche ich dir auch, Santa. Alles Gute auf allen deinen Reisen. Auf Wiedersehen.“

„Wiedersehen, Sanna.“

 

Sie eilte hinaus, währendem er schon den Schlitten auf dem Dach bestieg, und winkte ihm noch einmal zu.

Er klatschte mit den Zügeln sacht auf den Schlitten, nannte jedes seiner Rentiere beim Namen.

Die braven Tiere zogen an und galoppierten los.

Der Schlitten löste sich vom Dach und hob ab.

„Hohoho!“, rief er ihr von seinem Schlitten aus mit einem letzten Winken zu, als er sich mit seinen Rentieren wieder aufmachte. „Frohe Weihnachten. Und euch allen eine gute Nacht!“

Sie sah ihm nach, wie sie rasend schnell hinauf in den Himmel davonstoben, der Weihnachtsmann und sein Gespann. Eine letzte Kurve zum Abschied drehten und dann davonflogen. Vor dem Mond nahmen sie die Abzweigung nach rechts, dann verschwanden sie in der Dunkelheit.

Und Sanna wusste, sie würde auch im nächsten Jahr wieder für Weihnachtsstimmung sorgen.

 

*

 

Silvie Collins hielt Mark und Claudia in den Armen. Sie konnte es selbst nicht glauben. Sie starrten noch nach oben in den sternenübersäten Himmel, als der Weihnachtsmann mit dem Schlitten und den Rentieren längst nicht mehr zu sehen war.

„Kommt rein, Kinder, es gibt nichts mehr zu sehen“, dirigierte sie die beiden zurück zur Verandatüre, weil sie im Morgenmantel nun plötzlich fröstelte.

 

„Was ist passiert?“ Tom Collins richtete sich gerade auf und tastete nach seiner Beule an der Stirn, die er sich am Dachbalken geholt hatte, als sie an ihm vorbeikamen.

Silvie kniete besorgt zu ihm nieder und half ihm hoch. „Du hast dir den Kopf gestossen.“

Er rieb sich den Nacken vom Schleudertrauma, als er etwas unbeholfen auf die Beine kam. „Habe ich das vorhin wirklich gerade erlebt? Oder war alles nur ein Traum?“

„Komm, los, Dad, Geschenke auspacken!“, rief Mark ihm zu, der zurück an die Wärme und vor allem zu den Geschenken strebte, die ihnen Santa Claus gebracht hatte.

Sie setzten sich in Bewegung. Silvie hatte ihn vorsichtshalber untergehakt, um ihm eine bessere Stütze sein zu können.

„Wird es jetzt jede Weihnachten wieder so sein, Dad?“, erkundigte Claudia sich unter Marks heftigem Nicken hoffnungsvoll.

Tom wechselte einen schnellen Blick mit Silvie, ehe er schliesslich bestätigte: „Ja, Kinder, warum nicht. Von heute an wird es jetzt jedes Jahr so sein und ein schönes Weihnachtsfest geben.“

Silvie nickte ihm im Weitergehen dankbar zu und lächelte. „Frohe Weihnachten, Tom“, sagte sie.

Er erwiderte ihr Lächeln mit einem warmen Blick. „Fröhliche Weihnachten, Silvie.“

 

 

 

***

 

 

 

Fröhliche Weihnachten, schönes Fest und einen guten Rutsch ins Neue Jahr

 

Alles Gute und bleiben oder werden Sie gesund

Ursula Gerber

 

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