Kurz vor den Präsidentschaftswahlen. Trotz Missachtung des Kyotoprotokolls, Misere in der Staatswirtschaft und zweier Kriege mit vielen Toten besteht die Gefahr eines erneuten Erstarkens des amtierenden Präsidenten. Doch es gibt Hinweise auf einen unglaublichen Betrug bei der letzten Wahl. Um diesen aufzudecken wird James Coburn beauftragt. Undercover soll er in die Staaten zurückkehren,  um die Wiederwahl von Präsident Russel zu verhindern. Doch sein Leben gerät schnell in Gefahr. Die Kräfte im Hintergrund schrecken für ihre Machterhaltung auch vor Mord nicht zurück...

 

Blick in Die geklaute Wahl

 

Liebe Leserin, lieber Leser

wenn Sie vom ersten Band in diesen zweiten etwas verwirrt sind, so bitte ich um Entschuldigung. Nachdem meine Protagonisten ein dermassen eigenständiges Eigenleben entwickelt haben, kann ich trotz der realen Ereignisse die Personen und Originalnamen aus dem ersten Buch nicht mehr beibehalten, denn nun werden ihnen Handlungen, Gemeinsamkeiten und Sätze angedichtet, die mit den ursprünglichen Personen nichts mehr zu tun haben. Ich weise Sie deshalb darauf hin, dass ausser den realen Ereignissen, die zum Entstehen dieses Buches geführt haben, alle Namen von Personen und die zusätzlichen Geschehnisse von mir frei erfunden sind und keine Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen besteht. Es ist nicht in meinem Sinn, irgendwen zu misskreditieren und bitte für allfällige Ähnlichkeiten von Vorneherein um Entschuldigung.

Cassandra York

 

Und jetzt natürlich, das will ich Ihnen nicht länger vorbehalten: BLICK ins Buch

 

Der Winter kam spät dieses Jahr. Es war nach dem Jahrhundertsommer selbst jetzt, Ende November, noch viel zu warm und vor allem zu trocken. Der Seespiegel hatte seinen üblichen Pegelstand noch nicht wieder erreicht. Die Niederschläge waren auch im Herbst nicht gerade üppig ausgefallen. Die Bäume hatten sich früher als normal verfärbt und die Blätter abgestoßen, sodass die meisten ihre kahlen Äste in den azurblauen Himmel streckten. Über dem Genfer See tobte der Föhn und wetteiferte mit der glitzernden Sonne um die Wette, peitschte den Wind und ließ die Wellen hochschlagen. Aber ihm war das anhaltend schöne Wetter zu verdanken, das vielerorts die Menschen wegen der akuten Dürre verfluchten. Die Berge schienen nahe wie nie, Bäume, Büsche und Sträucher und die Farbe des Wassers waren in ein unwirkliches Licht getaucht, das kein Maler so naturgetreu hätte wiedergeben können.

 Ali Pasha hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt und ging aufgeregt vor Coburn, der ihn stirnrunzelnd beobachtete, in der Diele hin und her wie ein wildes Tier in einem Gitterkäfig. Er war ein großer Mann in einem weißen Thob, dem traditionellen, wallenden, arabischen Männergewand, das nur von einem dunklen Band zusammengehalten wurde und fast bis zum Boden reichte. Er hatte graues, leicht zerzaustes Haar. Sein Bart reichte bis auf die Brust hinab. Das Gesicht war schmal und hager.

 Der graue, lange Bart zitterte vor Erregung, als er unvermittelt vor James Coburn stehen blieb und rief: „Es ist nicht mehr zum Aushalten! Schon wieder fünfzehn Tote in Damaskus! Dieser Menschenschinder hat einfach kein Einsehen und schickt seine Soldaten weiter in den Tod! Wir müssen dem ein für alle Mal ein Ende setzen!" Coburn blickte ihn aus seinen grünen Augen fragend an. Seit seinem Amtsantritt in der Schweiz bekleidete er den Posten des türkischen Botschafters in Genf, den er durch seine neu gewonnenen Freunde Ali Pasha und Jamal erhalten hatte. Er war ein großer, pflichtbewusster Mann. Aber obwohl er in der türkischen Botschaft arbeitete, nahm er es mit der Etikette nicht mehr ganz so genau wie früher. Manchmal trug er jetzt sogar Jeans und Turnschuhe auf der Arbeit, oftmals verzichtete er sogar auf die Krawatte. Nur wenn es der Anlass eben geradeso verlangte, kam er wie früher in blank polierten Lederschuhen, schwarzen Bundfaltenhosen und einem gestärkten weißen Hemd unter dem schwarzen Blazer daher. Dann war er peinlich auf sein äußeres Erscheinungsbild bedacht, wenngleich er sein braunes, ordentlich zur Seite gekämmtes Haar nicht mehr mit einer halben Flasche Gel oder Haarspray vergewaltigte. Früher hatte er sich fürchterlich darüber ärgern können, wenn sich eine Haarsträhne selbstständig machte und unerlaubterweise in seine hohe Stirn fiel, oder wenn sich ein imaginäres Haar oder gar ein paar Schuppenzellen auf seinem Kittel auszuruhen erlaubten! Dann war er ganz wild geworden und hatte neben seiner Familie das ganze Büro in Aufruhr versetzt. Er hatte seine welligen Haare zwar noch immer wie früher nach hinten gekämmt, doch er trug sie jetzt eher lässig und nicht mehr mit dieser fettigen Speckschicht, die sie hatte halten sollen. Es störte ihn nun nicht mehr, wenn ihm eine vorwitzige Strähne in die Stirn fiel und seine Nase kitzelte, er empfand es sogar als lässig, weniger spießig und meinte, es ließe ihn jünger aussehen, als ihn der gepflegte Bart erscheinen lassen wollte. Er war zwar elegant gekleidet, aber er trug jetzt nicht mehr täglich sein Hemd und die Bundfal-tenhose. Ganz zwanglos hing ihm sogar die Krawatte offen über den Nacken auf die Brust hinunter und der oberste Knopf war offen. Er wartete. Seit der herzlichen Begrüßung vor zwei Minuten stand er noch immer mit Ali Pasha in der Diele der großen Wohnung und befand sich bereits mitten in einem ungemütlichen, scheinbar hitzigen Gespräch. Der Araber tigerte weiter auf und ab.

 Sie lebten in einer Wohnung in Montreux, im vierten Stock, etwas oberhalb des Hauptverkehrsstroms, von wo James bequem zu Fuß die Bahn- oder Bushaltestelle und auch das Stadtzentrum zum Ein-kaufen innerhalb kürzester Zeit erreichen konnte. Das Gebäude stand auf einem sanften Hügel, von wo aus sie eine wunderbare Sicht auf den Genfer See und das malerische Städtchen hatten. Es war ruhig gelegen, von Bäumen und viel Grün umgeben und hatte von morgens bis abends Sonne, die ihnen die Seele erwärmte und die Erinnerung an die Wüste wach hielt. Obwohl Yasmin und Ahmed nicht seine leiblichen Kinder waren, hatten sie und Charlie sich bestens an die ungewohnte Umgebung angepasst. Sie hatten sich an das üppige Grün und das viele Wasser des Sees gewöhnt, aber obwohl sie mittlerweile sogar Französisch sprachen und mit keinem Wort etwas erwähnten, wusste er, dass sie ihre Heimat und ihren Vater Ali Pasha vermissten. Und obwohl er jetzt wieder einmal da war, hielten sie sich dezent und fast furchtsam im Hintergrund zurück.

Coburn fühlte Besorgnis in sich aufsteigen. Der unruhige Schatten des Arabers wurde von der einfallenden Sonne an die weißen Wände geworfen und reflektierte sein Bild im hohen, goldumrahmten Spiegel. „Das Attentat war natürlich Öl ins Feuer deines Präsidenten! Er nimmt dieses Blutbad als Sinnbild für seinen weiteren Wahlkampf, den er ja nur auf den Kampf gegen den Terrorismus aufgebaut hat!", warf ihm Ali Pasha hitzig vor. James schüttelte mit einem tiefen Seufzer nachsichtiger den Kopf: „Diesmal muss ich ihn aber in Schutz nehmen! Dieses sinnlose Blutvergießen muss einmal ein Ende haben!" Ali Pasha blieb einen kurzen Moment dicht vor ihm stehen. Der Blick seiner schwarzen Augen bohrte sich wie sein Zeigefinger tief ins Fleisch von Coburns Brust hinein: „Was sich Russel auch einbildet – man kann den Terrorismus nicht bekämpfen!"

 „Du meinst, er ist unbesiegbar?" Coburn wurde unruhig.

 „Man muss das Übel an der Wurzel packen, wie ein Unkraut, um es auszurotten! Man muss sich über die Ursachen und Hintergründe des Terrorismus informieren und sich fragen, warum er überhaupt entsteht! Nehmen wir zum Beispiel Tschetschenien: Diese Leute haben nichts! Sie haben noch nicht einmal genug zu essen! Alles ist zerbombt! Und noch immer werden ahnungslose, russische Soldaten dorthin geschickt, die ihr Leben lassen müssen! Putin würde, anstatt aufzurüsten und seine Grenzen besser zu sichern, sein Geld lieber den Tschetschenen in Form von Lebensmitteln und in die Hilfe für den Wiederaufbau Ost-Ossetiens investieren! Aber anstatt das Übel zu reduzieren, schürt er es mit seiner falschen Politik nur an!" James sah ihn nachdenklich an. „Wenn ich es mir recht überlege, dann begeht Russel in dem Fall genau den gleichen falschen Weg." Ali Pasha gab ihm recht. „Warum hast du mich noch nie gefragt, warum ich Krieg gegen die Amerikaner führe?" Ihre Blicke begegneten sich, doch James hielt ihm nicht stand. Dieses Thema hatte er bisher tunlichst vermieden. Schließlich sagte er: „Ich wollte dich nicht verärgern."

 „Du hattest Angst vor dieser Frage?" Er nickte. „Ich weiß, dass die Moslems uns hassen, weil wir mit Israel gemeinsame Sache machen ..." Ali stimmte zu. „Du kannst Israel und Palästina in etwa mit Russland und Tschetschenien gleichsetzen. Auch hier wird eine Minderheit terrorisiert. Man nimmt ihnen alles weg, zerbombt ihre Häuser und zerstört ihre Lebensgrundlage. Aus diesem Hass werden Fanatiker geboren. Und wir Moslems unterstützen unsere Glaubensbrüder, weil uns Mohammed das aufgetragen hat. Der Koran ist uns heilig – wie euch die Bibel. Und deshalb sage ich dir: Wie der Vater, so der Sohn! Eine Amtszeit reicht!", stieß er erneut heftig hervor. Coburn sah es bildlich vor sich, wie er jedes Wort einzeln wie einen üblen Bissen ausspuckte. Abrupt blieb Ali Pasha mit blitzenden Augen wieder vor ihm stehen. Seine dunkle Stimme zitterte vor Wut: „Die Haitianer haben es gesagt und sie haben recht: Es gibt keine Lösung mit Aristide – es gibt nur eine ohne ihn! Dasselbe gilt auch für Präsident Russel, wenn er nicht abgewählt wird!", sagte Ali Pasha fest entschlossen und erwartete mit prüfendem Blick Coburns Reaktion. Dieser blickte ihn abwartend, wenn auch begreifend an: „Willst du ihn umbringen lassen?", fragte er stirnrunzelnd. Ali Pasha verneinte. „Du überschätzt meine Macht, Freund. Aber es wird wohl genügend Parteien in deinem Land geben, die ein Interesse daran haben könnten."

 Er zuckte vage mit den Schultern. „Ich weiß nicht, ob sich nach so langer Zeit noch jemand finden wird, der das tun würde. Eigentlich ist es ja seltsam, dass, obwohl die wenigstens anfänglich mit ihm einverstanden waren, trotzdem nie mehr jemand etwas gegen ihn unternommen hat …" Der Araber blickte zum Fenster über die nahen Häuser auf den See hinaus, der dunkelblau und mit weißen Schaumkrönchen im Sonnenglast lag. „Auch sein Stern wird sinken, Jamie", murmelte er etwas ruhiger. „Wenn er die Wahl verlieren soll, müsste aber schnell etwas geschehen, Ali Pasha. Allen Übeln in unserem Land zum Trotz – er hat noch viel zu viele Anhänger, die ihn wieder wählen werden, weil sie zu dumm sind, um die Zwischentöne und Lügen in seinen Reden zu erkennen. Stattdessen himmeln sie ihn an und laufen ihm nach wie eine Herde Hammel, die zum Schafott geführt wird!", rief Coburn nun seinerseits ärgerlich. Angeheizt durch seinen Gast fühlte er sich gerade in der Stimmung, auf den Boden zu spucken. Wenn er draußen und nicht in seiner teuren Mietwohnung gewesen wäre, hätte er es weiß Gott getan. Ali Pasha nickte. „Die Katastrophe, auf die sie zusteuern, werden diejenigen, die ihn wieder wählen werden, erst erkennen, wenn es zu spät ist."

 „Wie willst du es verhindern? Glaubst du, dass Jack Ryan eine reelle Chance hat, diese Wahl zu gewinnen? Oder kannst du etwas dafür tun, dass er Russel ablöst?" Der Mann im wallenden Gewand lächelte amüsiert. „Deine Fragen sind gezielt wie die Bisse einer Kobra. Du kennst mich schon sehr gut, nicht wahr?" James nickte. „Ich entnehme es deinen ersten Worten, dass du nicht tatenlos herumsitzen und darauf warten wirst, wie die Wahlen enden. Also?" Ali Pasha wiegte nachdenklich den Kopf. Schließlich sagte er: „Finanziell braucht er uns nicht. Aber ich glaube, wenn die Russel-Regierung ihren Stern sinken sieht, wird es gut sein, Ryan zu beschützen. Er könnte sonst ähnlich enden wie damals euer Kennedy." Coburn erschrak und runzelte nervös die Stirn: „Was redest du da?"

 „Sag mir nicht, dass du das nicht weißt! Aber egal, du hast es am eigenen Leib erfahren, dass es Leute in deiner Regierung gibt, die Angst um ihren Stuhl haben." Mit einem tiefen Seufzer nickte er. „Ja, das ist wahr. Aber was willst du tun?"

 „Ich? Nichts. Aber du musst nach Amerika gehen und Russels Wiederwahl verhindern!", erklärte er ruhig. Coburn blickte den Freund entgeistert an. „Was? Ich?", lachte er hohl. „Wie stellst du dir vor, soll ich das anstellen?" Seine Stimme überschlug sich fast. Sie klang grell und spröde, und er fragte sich insgeheim, ob Ali Pasha wohl übergeschnappt sei. Doch dieser gab sich einen völlig anderen Anschein. Ruhig wie ein Mann, der sich seiner Worte absolut sicher ist, verschränkte er die Arme vor der Brust und fuhr fort: „Indem du dafür sorgst, dass du genug Beweise gegen Präsident Russel zusammenbringst, um ihn von seinem Sessel zu entfernen!"

 „Hast du deine Idee noch immer nicht aufgegeben?", seufzte Coburn und hob theatralisch die Hände. Der Freund blickte ihn erzürnt an. Seine dunklen Augen sprühten Funken. „Niemals!", rief er aus vollem Herzen aus. James verwarf die Hände und gab seufzend nach: „Und wie bitte stellst du dir vor, was ich tun oder herausfinden soll?" Ali Pasha verschränkte die Arme auf dem Rücken und kniff die Augen zu schmalen Spalten zusammen. Mit seiner stattlichen Größe konnte er auf ihn niederblicken wie auf ein Kind, das er maßregeln und belehren musste: „Es gibt so viele Fragen, Jamie", seufzte er über die kindliche Naivität seines Gesprächspartners. Coburn zog eine Augenbraue in die Höhe und wartete. „Zum Beispiel, wie es die Amerikaner in nur gerade 18 Minuten nach dem Horror vom 11. September mit Sicherheit wissen und in aller Welt behaupten konnten, dass es ein Terrorakt gewesen sein soll! Und wie sie so schnell feststellen konnten, welches Flugzeug wann und in welchen Turm des World Trade Centers geflogen ist, noch dazu, wo keine Trümmer gefunden wurden? Hast du dir das schon einmal über-legt?", fragte Ali Pasha spitz. Coburn nickte. „Das stand alles in meinen Recherchen, deretwegen ich nach dem Irak gebracht worden bin. Ich hatte festgestellt, dass es ein Komplott zwischen dem Besitzer des World Trade Centers war, der die dicken Versicherungsprämien einstreichen wollte, und Russels Regierung, die unbedingt einen Grund für einen Krieg brauchte."

 „Das ist doch gut." Der Araber grinste knapp. „Damit haben wir schon einen Teil dessen, was wir suchen." Coburn schüttelte betrübt mit einem Seufzer den Kopf.

 „Diese Unterlagen habe ich nicht mehr …" Ali Pasha runzelte die Stirn und ließ die Arme sinken. „Was hast du damit gemacht?"

 „Charlie hat sie aus dem Haus geschafft, damit sie uns nichts nachweisen konnten …"

 „Und was ist dann mit ihnen passiert?" Alis Stimme beinhaltete einen unüberhörbaren, leicht bedrohlichen Unterton. Coburn seufzte tief auf. „Damit sie nach ihrer Flucht in Ottawas Schweizer Botschaft Asyl erhielten, mussten Grace und Charlie dort ihre Geschichte erzählen und sie natürlich mit ihren Unterlagen beweisen. Die US-Regierung verlangte daraufhin deren Aushändigung mit dem Versprechen, sie dann in Ruhe und in die Schweiz fliegen zu lassen. Die Beweise wurden von der US-Regierung aber natürlich nicht publik gemacht, sondern entweder vernichtet oder als Top-Secret-Unterlagen eingemottet ..."

 „Wie konnten sie nur darauf eingehen?", donnerte Ali Pasha. Auf seiner Stirn erschien eine hohe, steile Falte der Wut. Coburn hob hilflos die Hände. „Was hätten die beiden anderes tun sollen?", fragte er mit einer hilflosen Handbewegung. „Warum haben es die Schweizer Behörden nicht verhindert?" Er zuckte seufzend mit den Achseln. „Ich kann es mir auch nicht erklären. Wahrscheinlich liegt es an der Abhängigkeit der Schweiz zu Amerika, dass niemand es wagt, den Giganten anzuklagen, aus Angst vor Sanktionen."

 „Dann musst du halt von vorne anfangen und recherchieren, wie du das schon beim letzten Mal getan hast!" James schüttelte mit einem hilflosen Schulterzucken den Kopf. Er hielt ihn wirklich für verrückt. „Ich kann nicht dorthin zurückgehen, Ali Pasha! Sie werden mich verhaften, wenn ich meinen Fuß auf dieses Land setze!"

 „Du wirst als Diplomat reisen", bestimmte dieser ungerührt. Coburn seufzte. Er wusste, dass er es tun musste. Er schuldete dem Mann zu viel, außerdem lag ihm selbst ein ureigenes Interesse daran, dass Ryan und nicht Russel die Wahl gewinnen würde. „Und? Was soll ich tun? Was hast du dir ausgedacht?" Der Anflug eines Lächelns erhellte kurz die harten Gesichtszüge des Arabers, weil Coburn wieder treffend festgestellt hatte, dass er nicht ohne Plan hierhergekommen war. „Du musst herausfinden, wie Russel es geschafft hat, die Wahl zu gewinnen! Wer ihm geholfen hat, ob es mit rechten Dingen zugegangen ist. Das glaube ich nämlich nicht! Wenn du etwas finden würdest, wäre das die sicherste Möglichkeit, seine Wiederwahl zu verhindern!" Coburn schüttelte seufzend den Kopf. „Du stellst nicht gerade einfache Aufgaben. Wenn da Dreck am Stecken sein sollte, dann kann ich diesen nicht einfach im Internet runterladen, wie ich es bei meinen letzten Recherchen getan habe! Nein, das kann ich nicht, Ali Pasha. Ich bin kein Detektiv!" Dieser blickte ihm mit unnachgiebigem Blick in die Augen. „Nein – du bist besser!", bestätigte er im Brustton der Überzeugung.

 „So ein Schwachsinn!" James schüttelte abwehrend den Kopf.

 „Du musst versuchen, alle seine Schwächen aufzudecken. Alles, was ihn irgendwie in Verruf bringen könnte, muss publik gemacht werden! Was hat er früher getan? Mit wem hat er verkehrt?"

 „Vielleicht fange ich am besten beim Kindergartenalter an!", spottete Coburn im Versuch, ihm die Unmöglichkeit seines Plans aufzuzeigen, doch Ali Pasha nickte. „Genau das meine ich, Jamie. Du musst jedes Staubkorn umdrehen und schauen, ob sich darunter nicht gerade der Grund befindet, weswegen er nicht wiedergewählt wreden könnte." Dieser seufzte. "Du bist wirklich irre, Ali Pasha."

„Wenn du es sagst, Freund …" Er lächelte. Coburn runzelte verzweifelt die Stirn. „Wir haben nie im Leben genügend Zeit, um Russels ganzes Leben aufzurollen! Nein, ich kann es nicht, und damit basta! Außerdem habe ich zu den meisten Gebäuden, in denen vielleicht was zu finden wäre, keinen Zutritt! Ich würde mich nicht einmal getrauen, irgendwo einzudringen, wo ich nicht hingehen darf!"Ali Pasha blickte ihm weiter unverwandt ins Gesicht. „Habe ich gesagt, dass du alles allein machen sollst?", fragte er mit einem zweideutigen Zwinkern. Coburn stieß heftig die Luft aus. „Du bist einfach unmöglich, Freund." Dieser nickte. „Hör mir zu: Deine Aufgabe wird es sein, so viele Personen wie möglich zu finden, die ihre Stimme gegen Russel abgeben werden, und die du für deine Recherchen einsetzen kannst. Du musst versuchen, unterdrückte, andersfarbige und andersgläubige Menschen in unser Geschäft einzubinden."

 „Was für ein Geschäft?", echote Coburn, der gegen seinen Willen plötzlich neugierig war. „Eine bessere Welt – und ein besseres Leben!"

 „Das ist unmöglich!" Er lachte unfroh auf und schüttelte entschieden den Kopf. Doch Ali Pasha nickte energisch. „Uns steht genug Geld zur Verfügung – bei Allah – um alles möglich zu machen!"

 „Was liegt dir daran, dass du dein Vermögen dafür einsetzt, Russel abzusetzen?", fragte Coburn stirnrunzelnd, der die Verbissenheit des Freundes nicht ganz verstand. „Ich meine, es ist ja gut gemeint, dass du den Amerikanern helfen willst, aber im Grunde genommen geht dich die ganze Sache doch eigentlich gar nichts an …"

 „Das wirst du eines Tages erfahren, Jamie. Wenn die Zeit reif dafür ist … Aber jetzt höre meinen Plan. Dein Flugzeug geht morgen früh um acht …!"

 „Was?!" Es war ein halber Aufschrei, mit dem Coburn sich dage-gen auflehnte, derart bevormundet zu werden. „Du überfällst uns aus heiterem Himmel, Ali Pasha! Du hast noch nicht einmal deine Kinder und meine Familie gesehen und verlangst von mir ganz cool, dass ich innerhalb von Stunden alle Zelte hier wieder abbrechen und mich in Gefahr begeben soll! Sie werden mich fangen und auspeitschen und mir die Zunge rausschneiden, und …!"

 „Sie werden dir kein Haar krümmen, Freund!", behauptete Ali Pasha barsch. „Ich habe entschieden, dass es keine andere Möglichkeit als diese gibt, um meinen Plan umzusetzen. Und außerdem: Du musst deine Zelte nicht abbrechen, wie du dich ausdrückst, denn du reist allein!" Coburn runzelte missmutig die Stirn. „Was zum Geier hast du ausgeheckt, Ali Pasha?" Dieser zuckte mit Unschuldsmiene mit den Achseln. „Wir brauchen deine Familie nicht in Gefahr zu bringen."

 „Das ist aber freundlich von dir! Es genügt also vollkommen, wenn sie mir den Schädel einschlagen!"

 „Warum willst du mich ärgern?"

 „Weil ich es hasse, von jemandem herumkommandiert zu werden, der über mein Leben oder Sterben befehlen will!" Coburns Augen glitzerten mit denen Ali Pashas um die Wette. Dieser schüttelte wieder den Kopf. „Du wirst nicht sterben."

 „Da bin ich mir nicht so sicher … Auf jeden Fall möchte ich selbst entscheiden, ob ich es tun möchte oder nicht! Es ist schließlich nicht so einfach, in die Höhle des Löwen zu gehen …"

 Ali Pasha nickte weise. „Du hast recht. Wir wollen uns hinsetzen und dann hörst du dir meinen Plan an. Danach wirst du es dir bis morgen früh überlegen und mir deinen Entschluss auf dem Flugplatz mitteilen." Coburn knirschte wütend mit den Zähnen. „Du würdest mich notfalls auch mit Gewalt ins Flugzeug zerren, nicht wahr?" Ali Pasha lächelte schmal. „Das wird nicht nötig sein, mein Freund, glaub mir…"

  

Es war ein klarer Morgen, als die „Edelweiß" ihre silberne Nase in den blauen Himmel hob und der Sonne die Heckflosse zeigte. Coburn blickte mit gerunzelter Stirn aus dem kleinen Fenster auf ein paar vereinzelte Wölkchen, die über Genf standen. Er sah sie jedoch kaum, denn er war völlig in Gedanken versunken und auch ein wenig ängstlich, während er sich das Gespräch mit Ali Pasha noch einmal durch den Kopf gehen ließ.

 Gestern Abend war ihm alles relativ logisch und einfach erschienen, heute kam es ihm schlichtweg unmöglich und brutal gefährlich vor.

Wie konnte ich mich nur zu einer solchen Schnapsidee überreden lassen und freiwillig in diese Kiste steigen!, scholt er sich und schüttelte in stumem Zwiegespräch verständnislos den Kopf. Was bin ich doch nur für ein Hornochse, dass ich mich derart habe einseifen lassen! Wenn das nur gut geht! Seufzend liess er sich in seinen Sitz zurückfallen und nestelte das Ticket aus seiner Hemdbrust. Seine Hand zitterte leicht, doch er fühlte sich ein wenig erleichtert, als sein Blick auf den Namen darauf fiel: Peter Osborne, Montreux. Sicherheitshalber kratzte er sich an seinem Bart, um sich zu vergewissern, dass auch der noch da war. Seit er Jamal und die Türkei verlassen hatte, hatte er ihn nicht mehr abrasiert. Er gehörte mit dazu, dass aus ihm ein anderer Mensch geworden war - ein Mensch mit einer neuen Identität. Verdammt Angst! Sie können mich nicht erkennen! Ich bin nicht mehr derselbe, habe einen anderen Namen, sehe anders aus, spreche ander... Es ist völlig unmöglich, dass ich Ihnen auffallen werde.., versuchte er sich einzureden, doch die Angst vor einer möglichen Entdeckung blieb. Was würden sie mit ihm tun, wenn sie seine wahre Identität doch herausfanden?

Der Flug dauerte lange. Von seiner Grübelei und dem monotonen Motorengeräusch schläfrig geworden, hatte er sich vom Schlaf übermannen und sogar den Film ausfallen lassen, obwohl er ihn eigentlich interessiert hätte. Aber nachdem er schon eine schlechte Nacht hinter sich hatte, konnte ein bisschen Erholung möglicherweise entspannend wirken.

 

Nach dem Mittagessen, das nach Schweizer Zeit eigentlich Abendessen war, sah er das kleine Flugzeug auf der Karte am Bildschirm endlich die Küste Amerikas anvisieren. Sie befanden sich nicht weit vor New York, und es konnte sich nur noch um Minuten handeln, bis sie landen würden. Er schob die Jalousie an seinem Fensterchen hoch und blickte hinaus in die grelle Sonne, die ihm freundlich ins Gesicht lächelte. Weit unter sich sah er das Meer silbrig schimmern, während sich ein paar Meilen weiter der graue Küstenstreifen mit seinen hohen Silhouetten ins Blickfeld drängte. Er spürte, wie sich die Nase des Flugzeugs ganz leicht senkte. Augenblicke später erklang der Warnton und die Signallampe mit der Aufschrift „Fasten seat belt" blinkte auf. Er stellte die Sitzlehne gerade, suchte nach den Enden seines Sicherheitsgurts und klinkte ihn ein. Das Herz begann ihm plötzlich wieder bang zu klopfen.

Macht mich die Landung oder die Ankunft nervös?, fragte er sich, weil er auf einmal fröstelte.

Die Maschine begann ihren steilen Sinkflug. Es rüttelte ziemlich heftig, als sie durch den Jetstream hinunter in ruhigere Gefilde absackten. Er hatte ein mulmiges Gefühl, das ihm wie ein Stein im Magen lag. Die „Edelweiß" knarrte und ächzte, alles bebte, selbst der Sitz unter ihm zitterte, als wollte sie gleich auseinanderbrechen. Schließlich hatten sie das Unangenehmste aber hinter sich. Als würde eine Riesenfaust einen Landschaftsteppich unter ihnen wegziehen, befanden sie sich plötzlich rasend schnell über New York. Das Fahrgestell fuhr aus und wieder erzitterte die Maschine. In der Anflugschneise sahen die Positionslichter der Landebahn aus wie Perlen an einer Kette, beim Vorbeisausen war es eine Allee aus kleinen, glühenden Männchen, die ihm ihre Aufwartung machten. Um nicht an das Bevorstehende denken zu müssen, gewährte er seiner Fantasie planlos freien Lauf.

 

Endlich bekamen die Räder Bodenkontakt. Es holperte unangenehm, die Flugzeugnase ging merklich nach oben, es gab quietschende Geräusche, die Maschine ächzte und zitterte wie im Schluckauf, dann setzte sie wieder auf, diesmal sanfter. Der Rasen und das Rollfeld glitten gespenstisch an seinem Fenster vorbei. Die Flughafengebäude und der Tower rasten mit fast unverminderter Geschwindigkeit näher. Sein Unwohlsein verstärkte sich durch den irrealen Eindruck noch. Wenn er einen Sinn mehr gehabt hätte, hätte er sicher behauptet, dass ihn etwas Schlechtes erwartete ...

 

Die Motoren dröhnten schrill, als der Pilot endlich das Bremsmanöver einleitete. Coburn seufzte tief auf. Er sah bereits das Ende der Landebahn auf sich zukommen und befürchtete, sie würden darüber hinausfahren. Doch der Pilot war ein erfahrener Mann und Coburn verfangen in seinen Ängsten und Befürchtungen. Er war zutiefst erleichtert, als das Flugzeug gemächlich auf die Gangway beim Flughafengebäude zusteuerte, während sich der Kapitän bei den Passagieren verabschiedete, sich für die netten Gäste bedankte und ihnen einen angenehmen Aufenthalt wünschte, bevor er andockte und sich dann endlich die Türen öffneten.

 James ging durch die hohe Halle, um sein Gepäck abzuholen. Um das Laufband versammelten sich viele Menschen. Er rümpfte geniert die Nase, weil ein großer Mann mit verschwitztem Hemd und Achselschweiß vorbeiging und eine stinkende Wolke bei ihm zurückließ. Während er warten musste, beobachtete er die wartenden Menschen verschiedenster Herkunft. Über einige schüttelte er insgeheim den Kopf, weil sie für seinen Geschmack nicht wussten, wie sie sich besser kleiden sollten. Andere waren ungepflegt oder hatten scheinbar keine Ahnung, wie man mehr aus seinem Typ hätte machen können. Endlich machte sein Koffer die Runde. Er bückte sich, um ihn vom Band runterzuheben und schob ihn auf seinen Gepäckrolli. Das war bequemer und sparte Kraft und Energie. Mit dem Handwagen machte er sich auf den Weg zur Passkontrolle. Auch dort stand bereits eine Menschenschlange, in die er sich einreihen musste. Es ging nur zögerlich vorwärts. Die eine Hand am Wagen, die andere in der Manteltasche, beobachtete er wieder die vorbeiziehenden und wartenden Menschen. Der Kapitän und seine Mannschaft gingen neben ihnen vorbei und verschwanden durch einen anderen Ausgang.

 

Aus derselben Tür traten plötzlich zwei Männer in schwarzen Anzügen in die Halle. Obwohl der eine etwas schlanker geworden war, erkannte er sie sofort: Es waren Dick Cheney und Sam Nolan, ihre damaligen Aufpasser, die Charlie so genial ausgetrickst hatte. Coburns Herz machte einen Satz und begann heftig zu klopfen. Rasch wandte er den Blick und das Gesicht ab, in der Hoffnung, dass sie ihn nicht erkennen würden.

Mit einem Bart sehe ich doch ziemlich fremd aus, oder?, hoffte er. Es wäre ja wohl wirklich purer Zufall, wenn sie mich erkennen würden, schliesslich erwartet hier sicher keiner, dass ich mich jemals wieder in den Staaten blicken lassen würde... Doch die beiden FBI-Beamten steuerten geradewegs auf ihn zu! Sein Herz hämmerte schmerzhaft gegen die Rippen. Nein, was soll das?, schrie es in ihm. Haut schon ab, ihr kennt mich nicht, ich bin nicht der, den ihr zu sehen glaubt! Doch Cheney und Nolan hörten seine stummen Bitten nicht. Er traute sich kaum, sie anzusehen, in der Hoffnung, dass sie doch an ihm vorbeigehen würden, doch er wusste, dass sie nicht erfüllt werden würde. Irgendetwas lief hier fürchterlich schief. Ali Pasha hatte nicht recht gehabt, sie erkannten ihn auf jeden Fall...! Gnade mir Gott!, betete er voller Angst. Es wurde ihm fast schwarz vor Augen vor unterdrückter Panik, doch er konnte nicht fliehen. Davonzulaufen nützte ohnehin nichts, er würde nicht aus dem Gebäude rauskommen und wahrscheinlich die Sache nur noch schlimmer machen. Gott, gib mir eine Chance!, schickte er ein weiteres Stossgebet zum Himmel, dann waren sie neben ihm. Die beiden bauten sich vor ihm auf wie eine Wand und blieben stehen. "Guten Tag, Mr. Osborne. Würden Sie bitte unauffällig mit uns kommen, Mr. Coburn?", sagte Nolan wie immer missmutig und ausgesprochen dienstlich. Er machte dabei ein mürrisches Gesicht und man sah ihm an, dass er seinen Job nicht gern verrichtete. Dick Cheney hingegen lächelte ihn freundlich an und streckte ihm die Hand entgegen. "Hallo, Mr. Coburn. Lange nicht gesehen. Wie geht es Ihnen?" Er konnte nicht anders, als diese Geste zu erwidern. "Hallo, Dick, hallo, Sam. Ist es ein Zufall, euch beide hier anzutrefen?", fragte er hoffnungsvoll. 

„Das wohl doch eher nicht, Mr. Coburn", antwortete Cheney verlegen. „Wir haben Sie bereits erwartet."

 „Wusstet ihr denn, dass ich kommen würde?"

 „Was weiß ich, warum wir uns die Füße in den Bauch stehen und uns die Augen nach Ihnen rausfallen lassen sollten!", brummte Nolan unwirsch. „Kommen Sie jetzt mit! Wir haben Sie erkannt und Befehl, Sie sofort auf den Posten zu bringen. Also machen Sie keine Mätzchen, dann müssen wir auch nicht ungemütlich werden, klaro?"

 James hatte einen dicken Kloß im Hals, den er fast nicht hinunterschlucken konnte. Er konnte kaum atmen. Kein Zufall? Er wurde erwartet? Oder doch einfach nur erkannt? Aber wenn es kein Zufall war, wenn er erwartet wurde, dann … Woher hätten sie es wissen können, ohne dass sie einen Tipp bekommen hatten?

Ich habe gewusst, dass etwas schief läuft!, dachte er voller Angst. Laut aber sagte er: "Wer will mich denn sehen, nach so langer Zeit? Hat jemand Sehnsucht nach mir?"

„Schnauze und mitkommen!", kommandierte Nolan unwirsch. Sein Gesicht wurde noch roter und mürrischer. „Bitte, Mr. Coburn, machen Sie uns keine Schwierigkeiten. Es wird Ihnen nichts passieren, das verspreche ich Ihnen. Wenn Sie erlauben, nehme ich Ihr Gepäck", anerbot sich Cheney höflich. James nickte, während Dick schon den Koffer vom Rolli runterhievte. Sprechen konnte er vor lauter Aufregung nicht. Immerhin erfüllte ihn Cheneys Versprechen mit ein wenig Erleichterung. Nebeneinander gingen sie zurück zur Tür, durch die auch die Flugmannschaft verschwunden war. Nolan ging zwei Schritte hinter ihnen, als wollte er eine Flucht nach hinten verhindern.

 

Während sie in einer schwarzen Limousine vom Flughafengelände hinunter nach Washington DC fuhren und Coburn hinten im Fond saß, plauderte Dick Cheney munter mit ihm, als wäre nie etwas Peinliches zwischen ihnen vorgefallen: „Ihr Junge ist ganz schön abgefeimt, Mr. Coburn. Der hat uns nach Strich und Faden am Seil runtergelassen und uns in einer riesigen Patsche sitzen lassen. Ein Teufelskerl, Ihr Charlie, Mr. Coburn."

 „Ja, das ist er. Tut mir leid, dass Sie seinetwegen Schwierigkeiten bekamen", erwiderte James höflich. „Ach, das ist halb so wild. Durch unsere Degradierung haben wir immerhin ein etwas ruhigeres Leben. Aber es ist auch ziemlich langweilig. Was soll’s, jedenfalls möchte ich den Spaß mit Ihrem Jungen nicht missen. Mir hat’s näm-lich trotz allem Eindruck gemacht, wie er uns abgehängt hat."

 „Red’ nicht so viel, Blödmann!", stieß ihn Nolan brummig an, der sich auf den Verkehr konzentrieren musste. „Entschuldigen Sie, Mr. Coburn. Wenn Sie sich erinnern, dann war Sam schon immer ein unangenehmer Zeitgenosse. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja", unterbrach er sich selbst und lachte zufrieden: „Ich hätte übrigens auch Ihrer Frau nicht zugetraut, dass sie sich zu Pferd über die Mountains und dann noch über den See nach Kanada durchschlagen kann."

 „Das haben sie ja wohl nicht allein geschafft! Da war ganz sicher jemand, der ihnen geholfen hat!", warf Nolan wütend ein. „Kann sein." Cheney zuckte gleichmütig mit den Achseln. „Wissen Sie’s, Mr. Coburn, wie sie’s angestellt haben?"

Hoppla, dachte dieser insgeheim, eine Fangfrage. Laut sagte er kopfschüttelnd: "Charlie hat es mir nie erzählt, weil ich ihn nicht danach gefragt habe. Ich war so überaus glücklich, sie wiederzusehen, dass alles andere bedeutungslos war."

„Aber irgendwann habt ihr doch zusammen darüber geredet, was ihr in der Zwischenzeit erlebt habt, nicht?", hakte Nolan neugierig nach. Coburn schüttelte den Kopf. „Wir hatten genug damit zu tun, uns eine neue Existenz aufzubauen. Möchten Sie noch etwas anderes wissen, meine Herren?", fragte er freundlich. Sie merkten, dass er sie hochnahm. Nolan schwieg beleidigt. Cheney grinste. „Sie fechten gut, Mr. Coburn. Ich genieße es immer wieder, mich mit Ihnen zu unterhalten."

 „Dasselbe gilt für mich, Mr. Cheney", gab dieser die Floskel höflich zurück. Beide feixten sich an. „Mich würde brennend interessieren, wie Sie es geschafft haben, aus dem Krieg zurückzukehren."

 „Wie ich schon sagte, Dick, wir reden nicht über die Vergangenheit. So leid es mir tut, aber Ihre Neugier kann ich nicht befriedigen, weil es mir nicht wichtig ist, alte Geschichten aufzuwärmen."

 Cheney seufzte. Sein Versuch, an Informationen zu gelangen, war kläglich gescheitert. Er setzte sich gerade in seinem Sitz hin und blickte hinaus auf die Straße. „Sie sind wirklich ein verdammt harter Brocken. Kein Wunder, dass sich unser Boss damals an Ihnen die Zähne ausgebissen hat …"

 „Und wer ist das?", fragte nun seinerseits James, der seine Neugier nicht zähmen konnte. Nolan lachte böse: „Das möchten Sie jetzt wohl gerne wissen, was? Wir können genauso gut schweigen wie ein Grab wie Sie!"

 „Na ja", er zuckte gleichmütig die Achseln, „das hätte ich mir eigentlich denken können." In einem Anflug von Amüsement entrang sich ihm ein belustigtes Lachen, als er sagte: „Ich hoffe doch, dass Ihr Boss wenigstens noch so viele Zähne im Mund hat, dass er seine Frühstückssemmel verdrücken kann. Oder muss er sie in seinem Kaffee einweichen, weil er nur noch auf dem Zahnfleisch daherkommt?" Nolan brummte wütend etwas Unverständliches zwischen den Zähnen und Cheney lachte kehlig, bevor ihr Redeschwall versiegte und sie den Rest des Weges schweigend verbrachten.

 Coburn fragte sich, wohin sie ihn wohl bringen würden. Er blickte auf die Armbanduhr. In eineinhalb Stunden würde er in der türkischen Botschaft in Washington D. C. erwartet. Vorher hätte er sein Hotel in der Nähe der „Embassy Row" an der Massachusetts Avenue beziehen sollen. Sie alle würden vermutlich umsonst auf ihn warten ...

 

Sie marschierten mit festen Schritten und mürrischen Gesichtern durch den Gang, die Schritte vom weichen Teppich gedämpft. Sie wechselten kein Wort. Coburn fragte sich einmal mehr, warum sie ihn wissen ließen, dass sie sich im Pentagon befanden. Warum war alles so offensichtlich? Er hatte erwartet, dass sie ihm die Augen verbinden und ihn an einen geheimen Ort schleppen würden … jedenfalls auf die Weise, wie er Entführungen aus den Filmen kannte. Aber hier war nicht Hollywood. Vor Baxters Büro blieben sie stehen und klopften. Coburn holte tief Luft und versuchte sich Mut zuzusprechen. Die Türe öffnete sich nach innen.

 Zwischen ihr und der sich dahinter befindlichen Mahagonikommode stand Harry Haldemann, der bullige, große Mann, der ihn seinerzeit zusammen mit dem Mexikaner Paolo Sorreno abgeholt und zum Flughafen gebracht hatte, als sie ihn nach dem Irak deportierten.

 Joshua Baxter saß lässig hinter seinem ausladenden Schreibtisch. Er nahm zuerst gar keine Notiz von ihnen, als sie eintraten und Haldemann hinter ihnen die Tür wieder schloss, sondern kritzelte mit dem Schreibstift über ein blankes Blatt Papier. Er gab sich den Anschein, äußerst beschäftigt zu sein, obwohl er auf sie gewartet hatte. Nolan bedeutete Coburn stehen zu bleiben, dann standen sie da wie bestellt und nicht abgeholt. Coburn versuchte seine Unruhe so gut es ging zu verbergen. Er wusste nicht, wer der Mann war. Dieser war groß und von schlanker Statur, ungefähr Mitte dreißig. Er trug einen ebenso unauffälligen wie teuren, grau gestreiften Anzug, ein gestärktes, weißes Hemd und eine schwarze Krawatte. Das blonde Haar war leicht gewellt und peinlich genau zurückgekämmt, das kantige Gesicht undurchdringlich. Nur dass er seine Lippen etwas fester zusammenpresste, wertete Coburn als Hinweis, dass er ihre Ankunft überhaupt zur Kenntnis genommen hatte. Es war schließlich Nolan, der sich ungeduldig räusperte. Baxter hob mit gerunzelter Stirn den Kopf und blickte den Störenfried missbilligend an. Seine hellen, blauen Augen blitzten und ließen erkennen, dass er dies gar nicht schätzte. Im Hintergrund des großen Fensters ging gerade die Sonne unter und malte lange Schatten und rotgoldene Tupfer auf den cremefarbenen Teppich. „Was erlauben Sie sich, Nolan!", erhob er verärgert seine Stimme, bevor er sich umwandte und aufstand, um Coburn von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. „Aha, wie ich sehe, sind Sie angekommen, Mr. Coburn." Dieser nickte ihm versuchsweise ebenso herablassend zu und sagte nichts. „Ich habe Sie schon erwartet." Baxter kam mit geschmeidigen Bewegungen um den Schreibtisch herum und baute sich vor ihm auf. Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich an die Schreibtischkante. „Fragen Sie sich nicht, warum ich nicht über Ihre Anwesenheit erstaunt bin?", fragte er feixend und grinste zynisch. Coburn blickte ihm ruhig in die blitzenden Augen. „Ich nehme an, Sie hatten solche Sehnsucht nach mir, Mister …", konstatierte er scheinbar gelassen. Er warf Haldemann einen Hilfe suchenden Blick zu, der fast losge-prustet hätte. Der fand die Situation wahnsinnig komisch. Baxter wandte den Kopf und deutete mit einer heftigen Armbewegung und mit ausgestrecktem Zeigefinger zur Tür. „Raus hier, ihr Idioten, aber schnell!", erboste er sich. Sofort zog Haldemann den Kopf zwischen die Schulterblätter, wie ein geprügelter Hund den Schwanz ein-klemmt, und zottelte in Richtung Tür davon. „Entschuldigung, Mr. Baxter", murmelte er kleinlaut, bevor er mit den beiden anderen verschwunden war. „Haben Sie keine Angst, dass ich Ihnen an die Kehle springen und Sie entführen oder töten könnte?", fragte Coburn spöttisch, der versuchte, den anderen, von dem er nun durch Zufall den Namen erfahren hatte, aus der Reserve zu locken. Baxter blickte ihn ebenso ironisch an wie umgekehrt. Er war erstaunt, dass Coburns Augen unerschrocken und entschlossen, ja sogar kämpferisch waren. „Warum sollte ich Sie fürchten, Coburn?", fragte er ruhig. „Ihre Wächter sind ja nicht weit." Es entstand eine kurze Pause gegenseitigen Taxierens.

 „Was wollen Sie von mir, Mister Baxter? Ich habe Ihnen nichts getan, dass Sie mich wie einen Verbrecher behandeln müssten!", schnaubte James dann, als er als Erster das unangenehme Schweigen brach. „Wenn man Ihnen zu nahe getreten ist, dann bitte ich in aller Form um Entschuldigung." Baxter grinste, ein untrügliches Zeichen, dass er es mit seinen Worten nicht ganz so aufrichtig meinte, wie es klingen sollte. James sagte nichts, er hielt dem eisigen Blick aus den blauen Augen jedoch furchtlos stand. Baxter lächelte schwach. „Sie wissen, Ihr Verhalten Ihrer Regierung gegenüber war und ist absolut unverzeihlich, Mr. Coburn! Sie wissen selbst, womit Sie sich unsere Loyalität verscherzt haben! Wie ich schon Ihrer Frau gesagt habe: Meine Leute sind überall und finden alles heraus, was es herauszufinden gibt! Es war ein Fehler von Ihnen, dass Sie die Informationen, die Sie sich damals am Computer der Lloyds Investment erstahlen, Ihrem Freund Williams weitergaben! Sie sehen also, ich bin über alles bestens informiert, und ich werde nicht erlauben, dass Sie wie-der hierher kommen und noch mehr Unsinn anstellen!" Seine Augen glitzerten plötzlich gefährlich und seine Stimme wurde drohend. Coburn zuckte lakonisch mit den Achseln. „Ich habe nichts dergleichen vor."

 „Sie können mir nichts vormachen, Coburn! Es gibt keinen Grund für Sie, nach dieser Sache wieder hier aufzukreuzen, als wenn nichts wäre!"

 „Sie missverstehen mich." James lächelte tapfer. „Ich bin türkischer Botschafter und habe hier aus diesem Grund Geschäfte zu erledigen …" Er versuchte, sich zu unterhalten, als wenn nichts wäre, und vor allem keine Furcht zu zeigen. Baxter zuckte mit keiner Wimper. Er nickte sogar. „Ja, ich habe davon gehört. Gratuliere zu diesem Aufschwung. Es würde mich interessieren, wie Sie es zu diesem Aufstieg geschafft haben …"

 „Das habe ich nicht zuletzt Ihnen zu verdanken, Mr. Baxter."

 „Zu viel des Lobes", flötete dieser, doch der Tonfall veränderte sich leicht, sodass James merkte, dass er des Süßholzraspelns langsam überdrüssig und ärgerlich wurde. Er fuhr jedoch unbeirrt fort, sein aufgesetztes Lächeln beizubehalten. Tatsächlich verlor Baxter die Geduld. Seine Zurückhaltung machte einer verbitterten Miene Platz. „Genug gefaselt, Mr. Coburn! Was soll der Unsinn mit Ihrem gefälschten Namen? Trauen Sie sich nicht, sich öffentlich zu Ihrer Person zu bekennen?" Das war ein Schlag in die Magengrube. James blieb ihm sekundenlang die Antwort schuldig. Schließlich sagte er lahm: „Es war nicht meine Idee …"

 „Nicht wahr, das habe ich mir doch gedacht." Baxter lächelte fies. Er verschränkte wieder die Arme vor der Brust und machte sich eine Freude daraus, seinen Besucher unhöflich stehen zu lassen. James sagte nichts mehr. Unruhig wartete er auf den nächsten Hieb. Schließlich aber sagte er: „Es tröstet mich doch außerordentlich, dass ich Sie mit meiner Anwesenheit in Angst und Schrecken versetzt habe …" Baxter schüttelte mit glühenden Augen den Kopf. „Mir haben Sie nie Angst gemacht …"

 „Sie lügen schlecht, Mr. Baxter! Sie wissen, wenn wir die Informationen einem breiteren Publikum publik gemacht hätten, wären gewisse Köpfe ins Rollen gekommen!"

 „Sie überschätzen sich maßlos, Mr. Coburn!" Er spuckte die Worte wütend aus. James merkte, dass er nahe dran war, die Kontrolle über sich zu verlieren. Ohne aufgefordert zu sein, trat er einen Schritt vor und setzte sich mit einem scheinbar lässigen Grinsen in den Sessel vor Baxter hin. Diesem sackte vor Überraschung der Unterkiefer auf die Brust. „Was unterstehen Sie sich?", ereiferte er sich, doch natürlich ohne Erfolg. Er wurde vor Wut fahl im Gesicht. „Wollen Sie mir drohen?", fragte James grinsend, wohl wissend, dass er ihn damit weiter auf die Palme trieb. Baxter merkte es und zuckte, sich beruhigend, mit den Achseln. Scheinbar gleichgültig wandte er sich ab, um zu seinem eigenen Sessel hinter dem Schreibtisch zurückzukehren und sagte gleichmütig: „Meinetwegen bleiben Sie auf Ihrem Arsch sitzen, bis Sie verrotten!"

 „Wie ungalant Sie sind." Baxter zitterte vor unterdrückter Wut. Er war fassungslos, dass er scheinbar nichts tun konnte, um ihn aus der Reserve zu locken. „Sie hatten schon immer so eine unhöfliche Ader, erinnern Sie sich?", feixte James weiter, dem es plötzlich gefiel, diesen Mann, der ihm selber Schrecken einjagen wollte, zur Weißglut zu treiben. Baxter gab ihm darauf keine Antwort. Er setzte sich in den Sessel, während er die Fingerspitzen gegeneinander drückte und ihn darüber hinweg mit einem warnenden Blick bedachte. „Für einen toten Mann nehmen Sie sich recht viel heraus, Mr. Coburn! Treiben Sie es nicht zu bunt, sonst könnte Ihre Frau diesmal tatsächlich zur Witwe werden!"

 „Sie können mir nichts vorwerfen, Baxter! Ich bin Diplomat und als solcher genieße ich politische Immunität! Oder wollen Sie wieder ein solch unsauberes Spiel spielen wie neulich?" Um Baxters Mundwinkel zuckte es spöttisch. „Wir befanden uns mit Ihnen im Krieg, Mr. Coburn. Uns ging es um die Sicherheit des Staates und unseres Präsidenten. Ihr Coburns wart dagegen nur Bauernopfer, die keine Rolle im großen Gefüge spielten. Und Sie wissen, im Krieg ist jedes Mittel erlaubt, nicht wahr? Wie sonst hätten Sie es schaffen können, daraus heil zurückzukommen?" James sah, wie seine Augen lauernd glitzerten. Ungerührt sagte er: „Ich war für tot erklärt. Hätte ich da zurückkommen und mich abschlachten lassen sollen? Damit meine Familie ein zweites Mal um mich weinen muss? Ich bin kein Soldat, falls Sie das vergessen haben sollten! Und ich bin nicht desertiert, wie Sie es ausgedrückt haben möchten! Ich – äh – hatte eine glückliche Fügung dank Amnesie."

 „So ein Unsinn!" Ihm war klar, dass Baxter dies nicht glaubte, aber es spielte ja eh keine Rolle, weil er ihm die Wahrheit gewiss nicht auf die Nase binden würde. Sollte dieser ruhig glauben, was er wollte. „Was ich mich wirklich frage, Mr. Baxter, ist: War dieser Krieg wirklich nötig? Ihre Soldaten haben weder Mustafa al-Hadin noch Hakim Botah aufgreifen können, von den Massenvernichtungswaffen im Irak ganz zu schweigen! Stattdessen haben Sie die Büchse der Pandora geöffnet und die Länder zu einer Hölle gemacht, in der täglich Unschuldige ihr Leben lassen müssen!"

 Dieser seufzte und rang sich ein wenig theatralisch die Hände, bevor er sie auf die Tischplatte niedersinken ließ. „Krieg ist die Höl-le. Er ist unsauber und trifft immer Unschuldige. Alle Vorsicht und aller guter Wille können nicht verhindern, dass Bomben zivile Ziele treffen und Frauen und Kinder getötet oder verstümmelt werden", erklärte Baxter schulterzuckend, als wenn es damit getan wäre.

 „Dieser Krieg wird völlig sinnlos geführt!"

 „Nichts ist so sinnlos wie dieses Gespräch, Mr. Coburn", sagte der Generalstabssekretär steif, während er wieder um den Schreibtisch herumkam. James blickte Baxter aus traurigen Augen mit verhangenem Blick an und schüttelte den Kopf. „Sie wissen wohl nicht, wovon ich rede, Sir! Ich habe Menschen sterben sehen … Menschen, die mir nichts zuleide getan haben, die hinterrücks und brutal abgemetzelt worden sind! Ich bin ein gutmütiger Kerl, Mr. Baxter, der keiner Fliege etwas zuleide tun kann, und mir wurde befohlen, ebensolche Gräueltaten zu begehen … Haben Sie schon mal eine Waffe in der Hand gehalten, Mr. Baxter?" Er blickte ihn jetzt durchdringend an. „Haben Sie schon mal auf einen Menschen gezielt und abgedrückt? Haben Sie schon mal jemanden getötet, Mr. Baxter?", bohrte er hartnäckig, als dieser scheinbar teilnahmslos blieb. Dessen Blick schweifte in die Ferne. „Wer Krieg führt, muss deswegen kein Unmensch sein, solange er einen triftigen Grund dafür hat. Krieg ist dann moralisch berechtigt, wie in diesem Fall, wenn er ein noch größeres Übel verhindert. Ein Beispiel, Mr. Coburn: Wenn die UNO oder einzelne Nationen in Ruanda rechtzeitig militärisch eingegriffen hätten, hätte der Mord an 800 000 Menschen verhindert werden können. Ein Krieg in Ruanda wäre besser gewesen als der Völkermord, der sich ereignete."

 „Ja, in diesem Punkt gebe ich Ihnen recht. Aber die Kriege gegen die afghanischen Rebellen und Irak waren nichtsdestotrotz verwerflich! Botah stand seit Jahren auf dem Präsentierteller. Ihre Sicherheitsberaterin Condoleeza Rice hat noch vor drei Jahren felsenfest behauptet, ihn und auch Nordkorea könne man getrost vergessen, von da gehe keine akute Gefahr aus, weil sich diese Länder bewusst seien, dass wir sie ausrotten würden, sollten sie eine Atombombe gegen uns abschießen!" Baxter rollte lakonisch mit den Augen. „Die Situation hat sich eben geändert, was soll’s?" Coburns Augen schleuderten Blitze. Am liebsten wäre er dem selbstherrlichen Kerl an die Gurgel gefahren, so sehr ging ihm dessen kaltblütige Arroganz und Gleichgültigkeit auf den Wecker. „Ihnen ist das ja scheißegal, nicht wahr? Dass man der US-Regierung und vorab Präsident Russel die niedrigsten Motive für diese Gewalttaten unterstellt? Sie haben einen krisensicheren Job und alle Ihre Freunde das Erdöl, auf das Ihr so versessen wart!"

 „Wer spricht denn von Öl, mein lieber Freund?" Um Baxters Mundwinkel spielte ein maliziöses Lächeln. „Schon allein die Tatsache, dass ich hier sitze und Sie mich in die Gefahrenstufe eins ein-ordnen! Die Pläne für die Öl- und Erdgaspipelines von Kasachstan über Afghanistan und den Irak, die vor dem 2. Juli gefährdet waren, machen dies ja wohl klar genug, und die Zusammensetzung der Russel-Abgeordneten war sicherlich auch nicht nur zufällig so gewählt, dass alle entweder mit Tabak oder Öl zu tun haben und gegen den Umweltschutz sind!" Baxter schüttelte grinsend den Kopf. „Sie irren sich schon wieder, mein lieber Coburn, sie wurden tatsächlich zufällig so gewählt. Aber was reden wir von der Vergangenheit, nicht wahr? Reden wir lieber von Ihnen und Ihrer neuen Aufgabe. Worüber recherchieren Sie denn diesmal?" Er stieß sich von seiner kantigen Sitzgelegenheit ab und ging ein paar Schritte vor Coburn auf und ab, um seine gestauten Glieder etwas zu lockern, bevor er direkt vor ihm stehen blieb. James sah, dass ein gefährliches Glitzern in den kalten, blauen Augen lag, das ihn wieder zur Vorsicht mahnte.

 Dieser Mann war hinterhältig und kalt wie Eis. Er gab zwar auch ein paar von seinen Geheimnissen preis, was jedoch zu einem lockereren Mundwerk führte. Er musste höllisch aufpassen, was er ihm jetzt erzählte. Aber zum Glück hatte ihn Ali Pasha vorbereitet. Er versuchte ein schwaches Grinsen, das ihm jedoch nur zur Hälfte gelang: „Aber nicht doch, mein lieber Baxter", äffte er dessen Wortwahl nach, „warum denn gleich so argwöhnisch?"

 „Nachdem wir Sie in den Irakkrieg abgeschoben hatten, sind Sie wohl kaum einfach so hierher zurückgekommen!"

 „Wo ich Gefahr laufen würde, inhaftiert und diesmal richtig weggesperrt zu werden? Aber nicht doch, Baxter, Ihre wirren Gedankengänge tun mir wirklich leid. Ich bin Diplomat. Als solcher bin ich viel auf Reisen, also auch hier, wenn mich die Geschäfte dazu zwingen!"

 „Ja, genau", nickte Baxter, „sprechen wir von Ihren Geschäften!" Er kehrte zu seinem Schreibtisch zurück, lehnte sich mit dem Hintern wieder dagegen und verschränkte die Arme erneut vor der Brust. Es sollte eine herrische, einschüchternde Geste sein. „Sehr gern", nickte Coburn in seinem Ledersessel bereitwillig und streckte fordernd die offene Hand aus. „Wenn Sie gestatten, möchte ich gern einen Blick in meine Agenda werfen, die mir Ihre Beamten neben anderen Sachen leider abgenommen haben, dann kann ich Ihnen genau jeden Termin erklären." Baxter blickte ihn gerade misstrauisch an und zögerte, als es an der Türe klopfte. Beide drehten sich unwillkürlich danach um, zumal Haldemann ungefragt eindrang. „Was ist denn los, man? Habe ich Ihnen nicht gesagt, dass Sie verschwinden sollen?" Harry zeigte ein verlegenes Grinsen. Er ging eher ein wenig gebückt, wie jemand, der eingeschüchtert ist, und wagte nicht wirklich aufrecht vor ihm aufzutreten. „Es … es tut mir wirklich furchtbar leid, Mr. Baxter, aber …"

 „Nun reden Sie schon, Harry!", schnitt ihm dieser das Wort ab.

 Haldemann seufzte und rang mühsam die Hände. „Da sind zwei Herren von der türkischen Botschaft, Sir", stieß er hastig hervor. Baxter machte ein missmutiges Gesicht. Coburn fiel ein Stein vom Herzen, weil er sich plötzlich nicht mehr so allein fühlte.

 „Was wollen die?", fragte Baxter stirnrunzelnd. „Sie möchten mit Mr. Coburn – äh, ich meine Mr. Osborne – sprechen, Sir."

 „Sagen Sie ihnen, er ist nicht hier!"

 „Das – äh – habe ich bereits versucht, Sir. Sie lassen sich nicht abschütteln. Sie sagen, sie wissen, dass er hier ist."

 „Dann teilen Sie ihnen mit, dass er bereits gegangen sei." In James begannen die aufgekeimten Hoffnungen auf Hilfe langsam wieder zu verkümmern. Er sank in seinem Sessel unmerklich zusammen.

 Innerlich fühlte er sich wie ein Häufchen Elend. Wenn sie sich tatsächlich abweisen ließen, was würde dann mit ihm geschehen? Was hatte Baxter vor? Haldemann druckste weiter unwohl herum: „Das haben sie mir auch nicht geglaubt. Sie sitzen draußen in der Halle und haben erklärt, dass sie hier warten werden, bis wir ihnen Mr. Osborne herausgeben. Wenn’s sein müsse, würden sie auch auf der Stelle übernachten …"

 „Zum Deubel noch eins!" Baxter schlug mit der Faust wütend auf den Tisch. Coburn, der wieder Oberwasser bekommen hatte, grinste erleichtert und erhob sich. Impertinent blickte er auf seine Schweizer Armbanduhr, bevor er feststellte: „Wie schnell die Zeit im Gespräch vergeht, nicht wahr, Mr. Baxter. Es tut mir sehr leid, die Audienz mit Ihnen vorzeitig abbrechen zu müssen, aber ich werde seit einer halben Stunde schon in der Botschaft mit dem Abendessen erwartet…" Dieser blickte ihn wütend an und schwieg. „Wir können unser Ge-spräch jederzeit gerne fortführen, Mr. Baxter, doch jetzt wollen Sie mich bitte entschuldigen. Sie verstehen schon, die Pflicht ruft. Dürfte ich also um meine Habseligkeiten bitten!" Er streckte die Hand nach den Utensilien aus, die auf Baxters Schreibtisch lagen. Haldemann blickte seinen Chef an. Dieser nickte missmutig und gestattete damit, dass Haldemann Coburns Sachen einsammelte und zurück in den ledernen, schwarzen Aktenkoffer legte, bevor er ihn hinüberreichte. „Also dann." James bückte sich nach seinem Koffer, legte den Mantel über den Arm und wandte sich demonstrativ zum Gehen. Baxter stieß sich wieder von der Tischplatte ab und machte einen Schritt hinter ihm her. „Was für ein Glück für Sie, Mr. Osborne, dass Ihre Wachhunde Sie so pflichtbewusst beschützen!" Er drehte sich nochmals um und nickte. „Nicht wahr? Was für ein Zufall."

 Er wusste zwar nicht, warum es so gekommen war, jedenfalls war er dem Schicksal für diese gütige Fügung äußerst dankbar. Baxters blaue Augen blitzten. „Wir sehen uns bald wieder, Mr. Osborne!" James nickte. „Dessen bin ich mir sicher. Auf Wiedersehen." Baxter gab Harry durch eine heftige Kopfbewegung das Zeichen und sagte: „Begleiten Sie Mr. Osborne hinunter, Harry."

 „Jawohl, Sir."

 Dieser beeilte sich, hinter Coburn herzulaufen und seinen Befehlen nachzukommen. Er war froh, seinem Boss aus den Augen zu kommen, der über den gestörten Ablauf seiner Pläne sicherlich äußerst aufgebracht war, und er hatte keine Lust, ihm dabei als Blitzableiter zu dienen.

 

                                                                 ***

 Coburn saß im Büro der „New York Times" und vertiefte sich in die Lektüre der alten Zeitungen, die vor über drei Jahren erschienen waren. Er hatte sich die Zeit zwischen August 2000 und dem Januar 2002 vorgenommen, obwohl ihm nicht wirklich bewusst war, was er zu finden hoffte. Klar war hingegen die Tatsache, dass Haldemann und seine Männer wie Bluthunde vor dem Häuserblock und vermutlich sogar auf den Treppen oder in einem nahe gelegenen Büro herumlungerten, um herauszufinden, was er hier im Zeitungsarchiv wohl trieb. Sicher nahmen sie wieder an, dass er an irgendetwas recherchierte, das unangenehm für sie und ihre Bosse werden könnte, doch er hatte gar keine andere Wahl, als sie zu ignorieren, wenn er seinen Auftrag durchführen wollte. Er las die alten Artikel und wusste aufgrund seiner früheren Recherchen noch sehr genau, warum und weshalb gewisse Dinge passiert waren: So war es im Interesse der eigenen Regierung unter dem damaligen Präsidenten Tom Kaprisky gewesen, dass es im Rahmen geopolitischer und wirtschaftlicher Interessen wichtig gewesen war, in Afghanistan die damals herrschenden Talibanrebellen zu unterstützen, die zu dieser Zeit einen einigermaßen stabilen und amerikafreundlichen Kurs gefahren hatten. Für die Erdölexperten und ehemaligen Diplomaten, die in die Geschäftswelt gewechselt waren, wie auch für die Regierung war es außerordentlich wichtig gewesen, die von Tadschikistan und Kasachstan über Afghanistan und den Irak bis zum Golf von Oman, zur Straße von Hormuz führende, geplante Ferngasleitung und Ölpipeline endlich verwirklichen zu können, die jedoch durch die heftigen Kämpfe im Norden des Landes zwischen den Rebellen und der regierungstreuen Nordallianz gefährdet waren. Doch dann war es unter dem Regime der Taliban in Afghanistan zu immer restriktiveren Vorschriften gekommen. Die hatten zu katastrophalen Bedingungen für das Leben der Frauen, den Erziehungssektor und die öffentlichen Freiheiten geführt, und die internationale Gemeinschaft hatte sich langsam darüber empört.

 Andererseits war der Terroristenführer und Millionärssohn Mustafa al-Hadin plötzlich zu einem Problem für die Taliban geworden, weil die fundamentalistischen Sunniten saudischer Abstammung seit etwa zwei Jahren Amerika zu ihrem Feind Nummer eins erklärt hatten. Von ihrem Hauptquartier in Khartum im Sudan aus hatten die Al Qaedas mithilfe ihrer Stützpunkte in bestimmten, nicht von der Armee kontrollierten Teilen Jemens erste Aktionen gegen die USA geführt, diese als Imperialisten bezeichnet und ihnen vorgeworfen, den saudi-arabischen Boden, die Heimat der heiligen Stätten des Islam, zu besudeln. Es hatte damals geheißen, al-Hadin rekrutiere mithilfe seines Vermögens eine politische Bewegung gegen die Sowjetmacht. Später hatte er Selbstmordattentäter gegen Amerika rekrutiert, dies mit vollem Wissen und Einverständnis des pakistanischen Geheimdienstes, ohne den er gar nicht in der Lage gewesen wäre, sein ganzes Netzwerk der Al Qaeda aufzubauen. Die Entwicklung der Taliban und die Freundschaften, die sie mit den neuen Feinden Amerikas schlossen, hatten die Hoffnungen der Ölgesellschaften, des Handelsministeriums und der Diplomaten durchkreuzt. Zumal sie al-Hadin, dem Anführer und Finanzierer von Attentaten, anfänglich gerne Unterstützung und Asyl gewährt hatten, waren sie ständig mehr in Ungnade gefallen. Doch wegen der Bodenschätze war kein drakonisches Embargo verhängt, sondern bis zum August 2001 weiter um neue Konditionen und die Auslieferung al-Hadins gefeilscht worden.

 Noch im Oktober 2000 hatten die Taliban und die Nordallianz unter der Leitung der Sechs-plus-Zwei-Gruppe, die aus ausländischen Beteiligten zusammengesetzt war, gemeinsam einen Friedensprozess und die Stabilisierung des Landes erörtert, die für die Förderpläne so wichtig war. Doch dann kamen die Präsidentschaftswahlen …

 James las von den Tumulten, die diese verursacht und aller Augen auf sich gezogen hatten. Er wusste, wie Ali Pasha und die halbe Welt wusste, dass der amtierende Präsident nicht demokratisch gewählt worden war. Das hatte während der nächsten Tage und Wochen nach der Wahl in jeder Tageszeitung gestanden. Während 36 langen Tagen war spekuliert, die Lochkarten ausgewertet, weiter spekuliert, geflucht und gebetet worden. Obwohl der Sieger noch lange nicht festgestanden hatte, hatte John Edmont Russel der Presse gegenüber geprahlt: „Mein Bruder Jeb hat mir versichert, dass Florida mir gehört; er hat es mir zu Weihnachten geschenkt!"

 Am frühen Wahlabend hatten die Fernsehsender Al Gore bereits zum Sieger in Florida erklärt und dann in ein Hotelzimmer nach Newark, Arkansas, umgeschaltet, wo John Russel mit seinem Vater, dem ehemaligen Präsidenten, und seiner Mutter Goldie saß. Der alte Herr hatte kaltschnäuzig und gelassen gewirkt, obwohl es so aussah, als sei der Sohn weg vom Fenster. Als ein Reporter Russel junior fragte, was er vom Ergebnis halte, hatte dieser nicht ganz schlüssig erklärt: „Ich ... gebe Florida nicht verloren. Ich weiß, dass Sie die ganzen Hochrechnungen haben, aber die Leute zählen noch die Stimmen ... Die Sender beurteilen die Sache verfrüht und die Leute zählen die Stimmen, sie haben eine andere Perspektive, daher ..." Schließlich hatte John Ellis von „Fox News Channel" in den Nach-richten verkündet, Russel habe Florida und damit die Wahl gewonnen und ihn offiziell zum Sieger erklärt. Andere Sender waren ihm wie Lemminge gefolgt, weil sie befürchteten, sonst als langsam oder schlecht informiert zu gelten. Dank Floridas offiziellen 537 Stimmen mehr hatte John Edmont Russel am 7. November vor Al Gore plötzlich ziemlich dubios die Präsidentschaftswahl gewonnen gehabt. Leider hatte dieser sich als schlechter Verlierer gezeigt und sein Eingeständnis der Niederlage zurückgezogen. Er hatte Nachzählungen gefordert und die Gerichte mit Rechtsanwälten und Klagen bestürmt, durch die er seine Chancen für einen Sieg noch mehr geschmälert hatte. Daraufhin hatte Russel junior den Republikaner und Ex-Außenminister James Baker ins Gefecht geschickt, einen Mann fürs Grobe, der 1992 seinem Daddy geraten hatte: „Scheiß auf die Juden, die wählen uns sowieso nicht!" Beim Junior nun hatte er aber die Ängste des amerikanischen Volkes geschürt, was hingegen nicht funktionierte. Russel war dann vor Floridas Bundesgericht gezogen und hatte gegen die weitere Auszählung der Stimmen Klage eingereicht. Nach einem anfänglichen Disput mit den Richtern hatten sie dann jedoch die Nachzählungen tatsächlich unterbunden, und am 21. Januar war der neue Präsident der USA – John Edmont Russel junior – in Amt und Ehren gehoben worden.

 Dieser Wahlausgang hatte viele Wähler enttäuscht. Schon sehr bald waren Gerüchte aufgekommen, Russel habe die Wahl gestohlen, der rechtmäßige Präsident sei Al Gore. Doch obwohl die ganze Affäre zum Himmel stank, war sie von den amerikanischen Medien ignoriert worden. Allein die BBC hatte nachgehakt und zur besten Sendezeit einen viertelstündigen Bericht in den Nachrichten gebracht, sämtliche schmutzigen Details aufgedeckt und die Verantwortung für den Betrug direkt Gouverneur Russel zugeschrieben. Nur ganz am Rande hatten schließlich die Los Angeles Times und die Washington Post die Geschichte aufgegriffen, wo sie jedoch kaum beachtet worden war.

 Coburn seufzte. „Ja, Ali Pasha hat recht, es ist diese verdammte, geklaute Wahl", murmelte er zwischen zusammengebissenen Zähnen und legte eine neue Seite um: Am 20. Januar hatte sich John Russel mit seiner Junta auf den Stufen des Kapitols positioniert. Vor dem Obersten Bundesrichter Rehnquist hatte er den Eid abgelegt, den Präsidenten bei ihrem Amtsantritt leisten. Den ganzen Tag über war in Washington ein kalter, dichter Regen gefallen. Dunkle Wolken hatten die Sonne verdeckt. Entlang der Route, auf der die Parade abgehalten werden sollte und an der sich normalerweise Zehntausende Zuschauer drängten, hatte damals eine gespenstische Leere geherrscht. Allerdings hatten sich 20 000 patschnasse Demonstranten mit Schildern eingefunden, auf denen sie Russel Wahlbetrug vorwarfen; sie waren das Gewissen der Nation gewesen. Er hatte in seiner schwarzen, gepanzerten Limousine an ihnen vorbeifahren müssen. Sie hatten nicht gejubelt. An der Stelle, an der die Präsidenten seit Jimmy Carter traditionell ausstiegen und die letzen hundert Meter zu Fuß gingen (als Erinnerung daran, dass die amerikanische Nation nicht von Königen, sondern von „Gleichgestellten" regiert wird), war die Limousine mit den dunkel getönten Scheiben (dem weltweit bevorzugten Fahrzeug von Gangsterbossen, Anm. v. Michael Moore) abrupt zum Stehen gekommen. „Ehre dem Dieb!", hatte die Menge geschrien. Die Mitarbeiter des Secret Service und Russels Berater hatten im eiskalten Regen Kriegsrat gehalten. Wäre er ausgestiegen und zu Fuß gegangen, hätten sie ihn ausgebuht und mit Eiern beworfen. Das Auto hatte mindestens fünf Minuten im strömenden Regen gestanden. Eier und Tomaten klatschten gegen das Auto. Die Demonstranten hatten Russel aufgefordert, herauszukommen und sich ihnen zu stellen. Plötzlich war der Wagen des Präsidenten angefahren, die Straße entlang und an der johlenden Menge vorbeigebraust. Die Agenten des Secret Service, die sich zum Schutz neben dem Wagen befunden hatten, mussten plötzlich rennen und waren, von den Reifen mit Schmutzwasser bespritzt, schließlich zurückgeblieben. Der Präsident hatte vor amerikanischen Bürgern auf seinen Thron fliehen müssen!

 Nach diesem unrühmlichen Auftritt der personifizierten amerikanischen Lüge hatte er auf der kugelsicheren Tribüne vor dem Weißen Haus Schutz gesucht. Viele geladene Gäste und Mitglieder der Familie waren auf der Suche nach einem trockenen Plätzchen bereits gegangen. Russel hatte dagestanden und stolz den Musikkapellen zugewinkt, deren Instrumente durch den Regen verstimmt waren. Der Schmuck an den Festwagen in der langen Parade war vom Regen vollgesogen gewesen und hatte schlaff herabgehangen, als die Wagen an der Pennsylvania Avenue Nummer 1600 angekommen und vorübergezogen waren. In vereinzelten Cabrios waren die nassen Prominenten, die er hatte veranlassen können, ihn zu ehren, gesessen und hatten einen nicht minder schlechten Eindruck gemacht. Am Ende der Parade stand er klatschnass allein auf der Tribüne, sogar seine Eltern waren vor dem Regen geflüchtet.

 Es war ein jämmerlicher Anblick gewesen: Der arme, kleine, reiche Junge, der nur Zweiter geworden war und trotzdem den Preis des Siegers in Empfang genommen hatte, hatte an seinem größten Tag niemanden beeindruckt und niemand war mehr da, der ihm zugejubelt hätte.

 Jener verhängnisvolle Tag war nicht nur der Stichtag gewesen, an dem die Talibanrebellen plötzlich nicht mehr mit sich reden lassen wollten, sondern zugleich auch der Wendepunkt, nach dem das strahlende, amerikanische Jahrhundert in einem Kollaps zusammengebrochen war. Ein Mann, den niemand gewählt hatte, saß im Weißen Haus. Kalifornien hatte nicht genug Strom, um Saft auszupressen oder seine Todeskandidaten hinzurichten. In den nachfolgenden zwei Jahren hatte es die schlimmsten Entlassungswellen gegeben, seit die Renaissance des vorletzten Präsidenten das Land verwüstet hatte …

 Doch all das war neben den Problemen in Afghanistan plötzlich nebensächlich erschienen. In weniger als einem Monat war das diplomatische Gleichgewicht zwischen den Rebellen und dem Westen aus unbekannten Gründen zerstört gewesen. Diese hatten zahlreiche Abkommen mit Russland und Peking unterzeichnet. Die russische Pipeline war im Sommer in Betrieb genommen worden und pumpte das Öl aus der kaspischen Region! Die amerikanischen Pipelines hingegen waren immer noch im Planungsstadium und die Öl- und Gasfelder der Konzerne in Kasachstan, Turkmenistan und Usbekistan drohten in kürzester Zeit unter russische und chinesische Kontrolle gestellt zu werden. Schließlich war das Ganze im Namen der Terrorbekämpfung und unter dem Vorwand, den Attentäter vom 11. September, Mustafa al-Hadin, auszuheben, in einem Krieg gegen die Taliban-Rebellen eskaliert.

 Coburn seufzte wieder und fuhr sich fahrig mit den Fingern durchs Haar. Eine vorwitzige Strähne hatte sich auf seine Stirn niedergesenkt und kitzelte seine Nase.

Wenn ich doch nur meine alten Unterlagen wiederhätte, dachte er entnervt, dann hätte ich schon einen grossen Teil meiner Arbeit geleistet! Doch dieser fromme Wunsch war unsinnig. Charlie hatte es ihm erklärt und er hatte nicht weiter nachgefragt. Die Dokumente und Beweisstücke waren unwiederbringlich verloren und er musste wieder ganz von vorne anfangen. Doch diesmal war seine Suche wesentlich schwieriger, weil er Baxters Spürhunde schon von Anfang an auf den Fersen hatte. Er legte den schweren Zeitungsband auf den Tisch und stand auf. Es tat ihm gut, ein paar Schritte zu gehen und seine steifen Glieder dabei zu lockern. Er ging zum Fenster hinüber und blickte stirnrunzelnd hinaus. Unten auf der belebten Strasse stand sein Fahrzeug, Haldemanns FBI-Leute hatten direkt hinter ihm geparkt. Zwei Männer in schwarz-weissen, an den Seiten durch die Waffen ausgebeulten Anzügen standen gelangweilt daneben und harrten der Dinge, die da kommen würden. Einer von ihnen sprach in sein Funkgerät oder Handy. Wahrscheinlich gab er gerade durch, dass Coburn noch immer nicht zurückgekehrt war. „Ihr könnt noch lange warten", meinte er trocken, doch erfreut war er nicht. Er wusste, dass sie deswegen nicht von ihm ablassen würden. Im Gegenteil: Wahrscheinlich würde die Tatsache, dass er so lange verweilte, noch viel mehr für Spekulationen und Ärger sorgen. Doch bislang hatte das Durchforsten der alten Berichte nichts gebracht, das er nicht schon gewusst hätte. Einzig eine Sache war ihm klar geworden: Wenn es allenfalls etwas zu finden geben würde, dann müsste das in Florida der Fall sein. Florida war der alles entscheidende Staat gewesen, der zu Russels Wahlsieg geführt hatte. Floridas Oberster Gerichtshof hatte die Nachzählungen unterbunden. Also musste er nach Florida …

 Amanda Wrighley, die das Archiv verwaltete, trat zu ihm ans Fenster. Sie war eine ältere, ein wenig untersetzte, kleine Frau mit tiefen Runzeln und einem riesigen Dutt, in dem sie ihre silbergrauen Haare aufgetürmt hatte. „Möchten Sie noch einen Kaffee, Mr. Osborne?", fragte sie liebenswürdig. Dieser drehte sich nach ihr um und schüttelte den Kopf. „Vielen Dank, Mrs. Wrighley. Ich glaube, ich gehe jetzt nach Hause." Sie lächelte fürsorglich. „Das wird wohl das Beste sein. Sie sehen müde aus." James nickte. „Das bin ich auch. Liegt wohl auch ein bisschen am Jetlag. Ich bin erst gestern angekommen."

 „Ja, dann sollten Sie sich wirklich ein wenig ausruhen. Sie können gerne jederzeit wiederkommen."

 „Ich danke Ihnen." Er lächelte ihr freundlich zu. „Wenn es meine beschränkte Zeit erlaubt, werde ich darauf zurückkommen."

 „Auf Wiedersehen, Mr. Osborne." Sie zog sich höflich an ihren Schreibtisch im Hintergrund zurück und überließ es ihm, seine Meinung noch zu ändern. Er kehrte an sein Tischchen zurück und klapp-te den dicken Band zusammen. Als er ihn hochhob, um ihn wieder einzuräumen, rief sie aus dem Hintergrund: „Sie können es ruhig liegen lassen. Ich werde ihn dann wieder einordnen." James war über dieses Angebot nicht traurig. „Haben Sie vielen Dank, Mrs. Wrighley. Auf Wiedersehen." Er nickte ihr noch kurz zu, dann zog er die Türe hinter sich ins Schloss und ging mit mechanischen Schritten hinaus auf die bevölkerte Straße.

 

Haldemann kam um das Polizeiauto geschossen, direkt auf ihn zu, während zwei andere Beamte auf sein Kopfnicken hin ins Gebäude eindrangen, um sich über seinen Aufenthalt und sein Tun ins Bild zu setzen. Coburn war in Gedanken versunken und studierte über einen Plan nach, wie sein Auftrag effektiv zu erledigen sein würde, und erschrak über sein Auftauchen fast ein wenig. Die davonrennenden Männer entgingen seiner Aufmerksamkeit. Er blickte stirnrunzelnd auf und fuhr Haldemann unwirsch an: „Erschrecken Sie mich das nächste Mal nicht so, Harry!" Dieser zuckte mechanisch mit den Achseln. „Tschuldigung, Mr. Coburn. Was haben Sie so lange da drin gemacht?" Er hatte beileibe keine Lust, ihm das zu sagen. „Das geht Sie nichts an, Harry!", erwiderte er unfreundlich, ging um den Wagen herum und stieg ein. Haldemann öffnete die Beifahrertür und setzte sich neben ihn. Coburn bedachte ihn mit einem giftigen Blick. „Das ist mein Auto!" Er nickte. "Ich habe meine Männer nocho da drin." Er deutete mit einer Kopfbewegung auf das gläserne Gebäude. "Und ich habe den Auftrag, Sie zu Mr. Baxter zu bringen. Er will Sie sehen."

„Schon wieder?", fragte James müde. Der Beamte nickte. „Er konnte, wie Sie wissen, sein Gespräch gestern nicht zu Ende führen." Coburn hatte plötzlich ein mulmiges Gefühl in der Magengrube. Diesmal würden seine türkischen Kollegen ihn nicht rausholen, wenn’s eng zu werden drohte. Er blickte nervös auf seine Armbanduhr. Noch zwei Stunden! Er wurde erst um 19 Uhr in seiner Suite zum Abendessen erwartet …

 

                                                                ***

 An diesem winterlichen Nachmittag war der Himmel praktisch wolkenlos. Die Sonne brach sich im Potomac und reflektierte in den Fenstern des Pentagon, dessen weiße Gemäuer sich wie eine mittelalterliche Festung auf der Südseite aus der Flussebene erhoben. Sein Blick schweifte hinüber und suchte das Fenster, hinter dem seine Frau als Sekretärin für einen hohen Offizier des Generalstabs gearbeitet hatte, bevor das Attentat vom 11. September geschah ... Damals hatte hier alles begonnen, was sein Leben völlig auf den Kopf gestellt hatte.

Und es wird auch jetzt wieder hier beginnen!, sagte er sich entschlossen. Das ist nichts als pure Gerechtigkeit! Baxter stand im hinteren Teil seines geräumigen, mit Mahagoni getäfelten Büros und hielt einen Golfschläger in der Hand. Er war dabei, den Abschlag für sein Match am Sonntag zu üben. Er blickte auf, als Haldemann mit Coburn eintrat. „Spielen Sie Golf, Coburn?", fragte er betont lässig und bedeutete ihm mit einer Armbewegung, dass er sich einen Schläger aus dem Bag holen solle. James schüttelte den Kopf. „Ich hab’s bislang noch nie versucht."

 „Na los, spielen wir eine Runde zusammen. Ich zeige Ihnen, wie’s geht. Sie können gehen, Harry!" Dieser zog sich augenblicklich auf den Korridor zurück. Baxters Anerbieten überraschte James nur wenig. Sehr schnell kam die Ahnung in ihm hoch, dass es mit zu seiner taktischen Strategie gehörte, ihn einzuseifen und zugänglicher zu machen, um ihn besser aushorchen zu können. Doch da er ihn nicht gleich zu Anfang verärgern wollte, kam er der Aufforderung nach, ging zum Trolleybag hinüber und zog einen Schläger heraus. Der Generalstabssekretär machte ihm Platz. „Stellen Sie sich hier hin." Er folgte seinen Anweisungen, setzte den Golfball auf das Tee (kleiner Stift oder Sockel, damit der Golfball etwas erhöht zu liegen kommt) und holte wie befohlen zu seinem allerersten Wurf aus. Sein Arm und der Schläger fuhren ins Leere, ohne den Ball zu treffen. Er grinste verlegen. Baxter lachte schallend. „War wirklich Ihr erster Versuch, wie?" James nickte. „Ich hab’s Ihnen ja gesagt."

 „Sie wissen ja, ich habe die notorische Angewohnheit, Ihnen nichts zu glauben. Noch ein Versuch?"

 „Warum nicht. Ich kann von Ihnen höchstens was lernen." Baxter grinste. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich Ihnen eine Hilfe sein werde …" Es war wohl eine Anspielung auf etwas anderes, doch er ging nicht darauf ein. James stellte sich nochmals in die Position, in die er dirigiert wurde, holte nochmals aus und … Es gab einen hässlichen Ratsch. Sein Magen zog sich unwohl zusammen, als er den Riss im Teppich feststellte, den er mit dem Schläger losgefetzt hatte. Und der Ball hatte sich noch immer nicht bewegt. Er trat nervös einen Schritt zurück und gab das Malheur preis. „Ich bitte vielmals um Entschuldigung", murmelte er. Baxter bedachte ihn mit einem viel-sagenden Blick. „Ich glaube wirklich, dass Sie zu diesem Sport nichts taugen!" Coburn nickte. Er ging an ihm vorbei und steckte den Schläger wieder ein. „Wo waren wir gestern doch schon nur stehen geblieben?", fragte er stattdessen, während er sich lässig in den Polstersessel vor dem Schreibtisch lümmelte. „Das war ein langweiliges Gespräch. Was haben Sie heute so gemacht?" Baxter machte ihm nun seinerseits vor, wie ein perfekter Schlag aussah. Der Ball flog ins aufgehängte Netz hinter der Tür. „Nichts Besonderes. Wollen Sie meinen ganzen Tagesablauf wissen oder interessieren Sie nur bestimmte Details?", stellte Coburn eine Gegenfrage. Baxter spielte weiter und drehte sich nicht nach ihm um. „Was haben Sie bei der New York Times den ganzen Nachmittag über gemacht?"

 „Ich habe gelesen."

 „Alte Berichte, wie ich hörte."

 „Ja." Er drehte sich mitten in der Bewegung ganz erstaunt um, weil er es so klipp und klar zugab. Ihre Blicke begegneten sich. James lächelte. „Was haben Sie gesucht?"

 „Das werden Sie mir eh nicht glauben …"

 „Versuchen Sie’s doch einfach." Baxter lächelte zurück. „Okay." Coburn nickte bereitwillig. „Einen Bericht über das erste Fußballspiel von meinem Sohn Charlie." Baxter runzelte missmutig die Stirn. Ungerührt dessen plapperte er munter drauflos: „Damals hatten wir gerade unser Haus in Washington gekauft. Es war eine Gelegenheit, müssen Sie wissen. Wir haben uns schon immer ein eigenes Heim gewünscht … Aber dann stiegen die Zinsen und wir mussten plötzlich beide arbeiten wie die Verrückten … Na ja, und ich hatte Charlie versprochen, dass ich mir an diesem Tag endlich einmal wieder Zeit für ihn nehmen und ihm bei seinem ersten großen Spiel zusehen würde …" Baxter drehte sich wieder um und setzte einen wütenden Schlag an. „Sie gehen mir auf die Nerven!", konstatierte er. Doch James bemerkte es gar nicht mal. Er war plötzlich völlig in Gedanken versunken. Was er dem Mann da erzählte, hatte er sich nicht einfach aus den Fingern gesogen, obwohl er es jetzt als Ausrede verwendete. Plötzlich war er sehr bedrückt: „Als der Tag kam, konnte ich mein Versprechen nicht einhalten … Die Arbeit ließ mich nicht los. Mr. Robbins, Gott hab ihn selig, ließ mich nicht freinehmen. Und ich habe das erste Spiel meines Sohnes und seine Liebe verpasst …" Er hielt mit weinerlicher Stimme inne. Baxter drehte sich mit wütend blitzenden Augen wieder zu ihm um. „Halten Sie den Mund, Coburn! Ich will kein Gefasel über Familienprobleme hören!" James blickte ihn verständnislos an. „Es gibt nichts anderes zu erzählen."

 „Sie haben keine Unterlagen oder Kopien davon mitgebracht?" Coburn schüttelte müde den Kopf. „Nein!", sagte er. „Es gab nichts zu kopieren oder mitzunehmen, weil ich es nämlich noch nicht gefunden habe!"

 „So ein Pech, nicht wahr?" Baxter blickte ihn aufwiegelnd an. James schwieg, hielt jedoch dem Blick der kalten, blauen Augen furchtlos stand. „So viele Stunden für nichts vergeudet. Schon wieder, nicht wahr, Mr. Coburn? Stunden, Wochen, Monate für nichts und wieder nichts!" James merkte sehr wohl, worauf er hinaus wollte. „Hoffen Sie, dass ich in Tränen ausbreche?", fragte er ungerührt, fuhr dann aber fort, als Baxter nicht antwortete: „Sie haben recht, es tut schon weh, sich für etwas derart einzusetzen und dann zu wissen, dass es zerstört wurde …"

 „Besser als das eigene, jämmerliche Leben, oder?", feixte Baxter grinsend, während er fast drohend auf ihn zutrat. Er nickte. „Da haben Sie sicher recht. Aber trotzdem ist es wie Perlen vor die Säue geworfen und eigentlich jammerschade, so viel Arbeit unbesehen zu lassen", sagte er möglichst leichthin, vermochte jedoch in seiner Stimme das Bedauern nicht zu unterdrücken. Baxter blieb vor ihm stehen und hob den Kopf. „Oh, ich habe es gelesen, Mr. Coburn."

 „Hoffentlich waren Sie beeindruckt." Dieser nickte. „Beeindruckt über Ihre blühende Fantasie."

 „Und doch wurde ich dadurch zu einem Sicherheitsrisiko für Präsident Russel? Irgendetwas kann da ja nicht stimmen, Mr. Baxter."

 „Fassen Sie es auf, wie Sie wollen. Ich kann Ihnen nur sagen, dass Sie all Ihre Stunden und Mühen umsonst investiert haben – und es wird wieder so sein, wenn Sie vorhaben, es noch mal gegen uns zu versuchen!"

 „Nun, wie ich Ihnen schon sagte, ich habe ganz anderen Aufgaben nachzugehen …" Der Generalstabssekretär nickte. „Wir werden’s ja sehen … Ich lasse Sie nicht aus den Augen, verlassen Sie sich drauf!" Coburn nickte gelassen. „Ich werde Ihnen ein Telegramm schicken, falls ich es mir anders überlege. Aber wie geht’s bis dahin weiter?"

 „Sie werden einer der bestüberwachten Männer der Staaten sein, mein Freund. Ich werde wissen, wann Sie aufstehen, mit wem Sie sich treffen, wann Sie ins Bett oder aufs Klo gehen … Als Freund gebe ich Ihnen den guten Rat, mich nicht weiter zu ärgern, dann werden wir sicher blendend nebeneinander auskommen …"

 „Davon bin ich überzeugt. Dann kann ich also gehen?" Er erhob sich aus seinem bequemen Sessel. Baxter komplimentierte ihn mit einer unhöflichen Handbewegung hinaus, während er sich wieder seiner Golfecke zuwandte. James blickte argwöhnisch hinter ihm her. „Und Sie werden nicht versuchen, mir in den Rücken zu schießen?"

 Da drehte Baxter sich mit einem freudlosen Grinsen nochmals zu ihm um: „Das wäre zwar eine gute Idee, Coburn, aber schade um den schönen Teppich. Blutspuren lassen sich so schwer entfernen …", sagte er. Der warnende Unterton in seiner Stimme war unverkennbar.

 

Mit hölzernen Schritten ging er durch den langen Korridor, folgte dann der Treppe hinab ins Foyer. Dort saß, wie üblich zu dieser Zeit, der Wachmann Reggie Love hinter seinem Empfangstresen, halb versteckt durch zwei große Bildschirme, die die Bilder der Kameras wiedergaben, die in der Eingangshalle, dem Treppenaufgang und den Innengängen angebracht waren und für die Überwachung des Pentagons sorgten. Hinter der Möblierung kam ihm Love entgegen.

 Er war ein großer, untersetzter, schwarzer Mann, der stolz seine blaue Uniform trug. In seinem rundlichen Gesicht glänzten die schwarzen Augen wie zwei blank polierte Kieselsteine. Er reichte ihm mit erstauntem Blick, aber erfreut die riesige Pranke. James streckte ebenfalls die Hand nach ihm aus. „Guten Abend, Reggie", grüßte er mit einem schwachen Grinsen. „N’abend, Mr. Coburn." Der Wachmann nickte ihm freundlich zu. „Was tun Sie denn hier in der Höhle des Löwen? Wie geht es Ihrer Frau?"

„Danke, es geht uns leidlich. Sie ist gesund und munter. Wie geht es Ihnen?" Love hob nichtssagend die breiten Schultern. „Wie soll es uns schon gehen? Es ist immer das alte Lied. Das Geld reicht nirgends hin, die Schulbildung der Kinder ist mies, kein Job für sie in Aussicht … Das alte Lied." Bei diesen negativen Worten, die klar auf die unselige Regierung gemünzt waren, erinnerte er sich an Ali Pashas Worte, der ihm aufgetragen hatte, Stimmen gegen Russel zu sammeln und andere Menschen mit einzubinden. Damals hatte er nicht gewusst, wie er das anstellen oder wen er fragen sollte. Jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, und er wusste, dass Reggie Love verschwiegen und seriös – und ein ausgesprochener Gegner Russels war. „Das tut mir ausgesprochen leid, Reggie", sagte Coburn lahm. Was hätte er schon auf so etwas anderes sagen können? Es klang fast wie ein Hilfeschrei, doch wie sollte er ein Gespräch in der gewünschten Richtung beginnen? Er fühlte sich ziemlich hilflos, in der Hoffnung auf eine göttliche Eingebung und gleichzeitig in der Angst, einer von Baxters Schergen käme gleich um die Ecke … „Was immer Sie auch sagen, Mr. Coburn, es wird nichts ändern." Er nickte mit einem tiefen Seufzer. „Ich weiß, Reggie. Obwohl ich es gern täte …"

 „Sie sind eine wohltuende Ausnahmeerscheinung, Sir." Love deutete auf seinen Sessel hinter dem Tresen. „Wollen wir uns nicht setzen und ein wenig plaudern? Wie in früheren Zeiten?"

 „Warum nicht?" Er war froh, dass er sich hinter dem Empfang etwas verstecken konnte, sodass ein Ankömmling nicht gleich sehen würde, dass er mit dem Wachmann sprach. Erleichtert kam er umgehend der Aufforderung nach, ohne jedoch das Portal und die geschwungene Treppe, die ins Obergeschoss führte, aus den Augen zu lassen. „Sind Sie auf der Flucht, Sir?", fragte Love beunruhigt, dessen Aufmerksamkeit die unruhig wandernden Blicke nicht entgingen. „So halbwegs", seufzte Coburn. „Ich werde praktisch auf Schritt und Tritt beobachtet."

 „Ich hörte von Ihrer Frau, dass man Sie in den Irak deportiert hatte … Schön, dass Sie es geschafft haben, Sir."

 „Danke, Reggie." James grinste schmal.

 „Warum sind Sie zurückgekommen? Wussten Sie denn nicht, dass das Spießrutenlaufen wieder von vorn beginnen würde?"

 „Da fragen Sie mich besser was Leichteres. Ja, ich wusste es. Andererseits habe ich mein damaliges Ziel nicht erreicht … Deshalb bin ich wieder hier …"

 „Und was war das?", fragte Love neugierig. „Die Gleichstellung von allen amerikanischen Bürgern. Und die Erlösung von einem unerträglichen Joch … Obwohl ich langsam glaube, dass es vielleicht zu illusorisch war, zu glauben, ich könnte es allein schaffen …"

 „Das will ich wohl meinen", nickte der Schwarze zustimmend. In seinen dunklen Augen blitzte es. „Wissen Sie, woran dieses System krankt?" Coburn schüttelte matt den Kopf. „Sagen Sie’s mir, Reg-gie", forderte er. „Ihr leidet noch heute unter dem Erbe der Sklaverei! Wir Afro-Amerikaner hatten niemals die gleichen fairen Chancen wie der Rest von euch. Unsere Familien wurden absichtlich zerstört, ihrer Sprache, ihrer Religion und Kultur beraubt, die Armut wurde institutionalisiert, damit ihr jemanden hattet, der eure Baum-wolle pflückte und Kriege ausfocht – und damit eure Supermärkte die ganze Nacht über geöffnet bleiben können! Das heutige Amerika hätte es ohne diese Millionen Sklaven, die es erbauten und seine boomende Wirtschaft schufen, und ihre Millionen Nachkommen, die heute noch immer für die Weißen die Drecksarbeit erledigen, nie gegeben!" Coburn blieb der Mund offen stehen über so viel Schlechtigkeit. Schließlich nickte er. „Ja, Reggie, Sie haben recht. Wir haben unser Rassenproblem nie richtig gelöst. Nur die Reichen haben profitiert und den Armen, vorab euch Schwarzen, vom Abschwung der Wirtschaft erzählt. Mit Details von Job verlieren, Konkurs, den Kaffee gibt es nicht mehr umsonst, haben sie euch eine Gehirnwäsche verpasst, damit ja niemand überhaupt daran denkt, ein begehrliches Auge auf ihre Geldberge zu werfen! Wir haben mit dem öffentlichen Rassismus aufgehört, wir wurden cleverer, aber euch Schwarzen geht es heute noch immer nicht besser als 1880! Und wir haben uns schon so sehr an das Bild des Schwarzen als gefährliches Raubtier gewöhnt, dass wir durch diese Gehirnwäsche auf Dauer verblödet sind. Niemand regt sich auf, wenn einer von euch vor laufender Kamera erschossen wird – es ist normal. Wir haben uns daran gewöhnt. Es ist seltsam, dass wir den Begriff ‚Verbrechen‘ mit schwarzen Gesichtern verbinden, obwohl die meisten Verbrechen von Weißen begangen werden!" James nickte und seufzte tief. „Ich weiß das alles, Reggie, und glauben Sie mir, ich persönlich finde das auch nicht in Ordnung. Ich verstehe, dass das schwarze Amerika eine ganze Menge angestauten Groll über die schreckliche Ungleichheit in diesem Land hegen muss. Aber wenn wir schon auf einem Pulverfass des Rassismus sitzen, Reggie, dann halte ich es trotzdem gleichwohl für besser, wenn wir beide auf der gleichen Seite stehen!"

 „Wie meinen Sie das? Dass wir beide gleicher Meinung sind, hilft uns überhaupt nicht weiter." James nickte. „Ja, das stimmt. Und dieser Präsident wird das Problem für euch auch nicht lösen!"

 „Der nächste wird es bestimmt auch nicht tun, Mr. Coburn!", rief Love erbost. Dieser nickte wieder. „Das mag sein. Aber Sie vergessen das Wesentliche, Reggie, was Sie vorhin selbst gesagt haben: Wenn ihr Schwarzen nicht die niedrigsten Arbeiten verrichten würdet, würde die ganze weiße Gesellschaft lahmgelegt! Also warum gebraucht ihr dieses Instrument nicht, um auf euch aufmerksam zu machen? Warum sagt ihr dem alten Präsidenten nicht: Hallo, Mr. Russel, wir wollen Sie nicht mehr haben! Sie machen eine Scheißpolitik, die uns nichts als Schlechtigkeiten und Repressalien bringt! Versammelt euch und ruft nach einem neuen Präsidenten. Und dem sagt ihr dann: Hallo Kumpel, sieh zu, dass du für uns etwas änderst, sonst lauft ihr Weißen nämlich Gefahr, dass es euch ohne uns plötzlich schlechter geht!" Love blickte ihn an, als wäre er nicht bei Trost. „Das ist doch wohl ein Witz?" Coburn schüttelte ernst den Kopf. „Keineswegs. Wir könnten im Ernstfall sogar einen eigenen schwarzen Präsidentschaftskandidaten aufstellen."

 „Kein normaler Amerikaner würde jemals einen Schwarzen zum Präsidenten wählen!"

 „Außer vielleicht, wenn er die Wahl hat zwischen ihm und einem entlarvten Gauner! Wenn Ryan – aus welchen Gründen auch immer – aus dieser Wahl rausfällt, dann müssen wir das tun, um zu verhindern, dass dieser Präsident nochmals eine Legislatur erhält!"

„Das ist doch alles Unsinn!", sagte Love mürrisch. „Das ist nicht wahr! Wir sind eine Nation von Dummköpfen. Sage und schreibe 44 Millionen Amerikaner sind nicht imstande, Texte zu lesen und zu schreiben, die auf dem Niveau der vierten Klasse liegen – mit anderen Worten, sie sind faktisch Analphabeten! Das ist auch kein Kunststück, wo der Durchschnitt 99 Stunden im Jahr beim Lesen von Büchern, aber 1460 Stunden vor dem Fernseher verbringt. Nur gerade elf Prozent machen sich die Mühe, eine Tageszeitung zu lesen, abgesehen von den Witzseiten und Gebrauchtwagenannoncen! Wir leben in einem Land, in dem 44 Millionen nicht lesen können und an die 200 Millionen es zwar können, in der Regel aber nicht tun, da muss einem doch angst und bange werden! Eine Nation, die nicht nur am laufenden Band ungebildete Studenten hervorbringt, sondern sich alle Mühe gibt, dumm und unwissend zu bleiben, sollte nicht gerade den Anspruch erheben, Weltpolizei zu spielen, oder?" Love nickte zustimmend. „Zumindest nicht, solange die Mehrheit der Bürger bombardierte Gebiete wie das Kosovo, Kaukasus oder Syrien nicht auf der Karte findet!"

 „Das ist kein Kunststück, wo praktisch jede staatliche Schule überfüllt ist, die Klassenzimmer undicht und die Lehrer demoralisiert sind, weil sie jährlich im Durchschnitt 41.351 Dollar dafür erhalten, sich jeden Tag acht Stunden um unsere Kinder zu kümmern, während ein Abgeordneter im Repräsentantenhaus 145.100 Dollar bekommt! Ist es ein Wunder, dass so wenige diesen Beruf wählen, wenn man sich vor Augen führt, wofür die Lehrer in unserer Gesellschaft täglich den Kopf herhalten und schuld an der schlechten Bildung unserer Bevölkerung sein müssen? Der landesweite Lehrermangel ist inzwischen so akut, dass einige Schulbehörden Lehrer außerhalb der Vereinigten Staaten anwerben müssen! In diesem Schuljahr gingen in New York 7 000 Lehrer in den Ruhestand. 60 Prozent der als Ersatz eingestellten haben kein Examen abgelegt! Und im Jahr 2000/01 begannen 163 Schulen in New York City ohne einen Rektor, der die Verantwortung für die Schule trägt! In jeder vierten Schule landesweit „lernen" die Schüler aus zerfledderten Lehrbüchern, die in den achtziger Jahren oder noch früher erschienen sind! Und damit sich unsere interessierten Kinder nicht von sich aus weiterbilden können, schlug Präsident Russel in seinem ersten Haus-haltsentwurf damals vor, die Bundesausgaben für Bibliotheken um 39 Millionen auf 168 Millionen Dollar zu kürzen, das entspricht fast 19 Prozent!"

„Das hat schon 1974 bei Präsident Nixon angefangen."

 „Ja, das stimmt. Und es wird noch heute mehr Wert auf einen neuen Bomber als auf unsere Kinder gelegt! Die Ausländer hat es deshalb nicht überrascht, dass wir Amerikaner, die gern in ihrer Dummheit schwelgen, einen Präsidenten ‚gewählt‘ haben, der fast nicht liest – noch nicht einmal seine eigenen Anweisungen …"

 „Was tun wir also?"

 „Wir Amerikaner sind zwar dumm, aber nicht blind. Mit dem richtigen Material werden wir der Bevölkerung von ganz Amerika die Augen öffnen und ihnen zeigen, wem sie da hinterherlaufen, und ich bin sicher, wenn wir es richtig anstellen und alle einander helfen, dann wird danach kein einziger weißer oder schwarzer Amerikaner mehr diesen Präsidenten wählen! Wir stehen zu einer einzigen, breiten Bewegung gegen ihn zusammen und beweisen der Welt, was Russels Funktionäre uns verheimlichen wollten, nämlich, dass die Wahl manipuliert worden ist!"

 „Und wie?"

 „Indem wir die niedrigen Dienststellen Ihrer Landsleute nutzen und sie als Maulwürfe nach allem schnüffeln lassen, das uns von Nutzen sein könnte. Die Putzequippen haben ja sicher Schlüssel zu sämtlichen Räumen, sodass wir auch Büros und Schränke durchforsten können – dann natürlich jeden Papierkübel, wo Hinweise auf wichtige Daten und Umstände achtlos weggeworfen werden, weil etwas in der Planung noch nicht stimmt oder alles schon vorbei ist."

 „Sie haben recht, vieles geht am Schredder vorbei", nickte Love und grinste. Coburn nickte ebenfalls. „Und jeder Schwarze, Farbige oder weiße Bürger, den wir für unsere Kampagne gegen Russel einbinden können, jeder Christ, Jude oder Muslime, der auf unserer Seite steht, wird vielleicht gerade diejenige Stimme sein, die über den Wahlausgang entscheidet!"

 „Also gut, Mr. Coburn, ich habe verstanden, was Sie von mir wollen. Aber was tun Sie?" James blickte ihn seufzend an und wischte sich mit dem Handrücken über den fusslig geredeten Mund. „Ich lenke die Aufmerksamkeit der Obrigkeit auf mich und halte euch den Rücken frei. Russels Schoßhund Joshua Baxter weiß, wer ich bin. Er hat mich schon einmal ‚entsorgt‘, als ich Dinge über die Hintergründe des 11. September herausfand, vor deren Veröffentlichung er sich fürchten musste …"

 „Das klingt fast wie ein Roman …" Coburn nickte. „Es könnte beileibe einer darüber geschrieben werden …" Love lächelte und zeigte ihm seine weißen Zahnreihen. „Wenn Sie mal ein paar Minuten erübrigen können, würde ich gern mehr davon hören – und warum es nicht geklappt hat ..."

„Ich hatte alle Beweise, die ich brauchte, doch meine Familie musste sie den US-Behörden dafür aushändigen, dass sie aus Kanada in ein sicheres Land ausreisen konnte … Ich erzähle Ihnen die Geschichte irgendwann. Doch jetzt muss ich gehen. Die werden sich sicher fragen, was ich so lange hier drin treibe. Es ist so schon verwunderlich, dass mich noch keiner gesucht hat. Übrigens, wahrscheinlich werden sie über kurz oder lang auch bei Ihnen auftauchen und Sie auszuquetschen versuchen … " Reggie streckte sich, sodass er zu seiner vollen, imposanten Größe heranwuchs und sein Brust-korb noch breiter wurde. „Die sollen nur kommen, die kleinen, wei-ßen Scheißer! Ich werde ihnen erzählen, dass wir von alten Zeiten geredet haben, als meine Bess noch bei Ihnen gearbeitet hat …"

„Ja, das ist eine gute Idee. Ich danke Ihnen, Reggie." James erhob sich und reichte ihm zum Abschied die Hand. Love hielt sie einen Augenblick länger fest als nötig, während er fragte: „Wie kann ich Sie erreichen, Mr. Coburn?" Dieser hielt seinem fragenden Blick ernst stand. „Am besten gar nicht, Reggie. Ich kann mir nicht sicher sein, ob sie mich abhören. Ich melde mich bei Ihnen. Wie lange, glauben Sie, werden Sie brauchen, um eine geheime Versammlung einzuberufen?"

 „Das ist keine Sache. Ich kenne viele Leute, die nur auf einen geeigneten Moment wie diesen gewartet haben, um sich gegen Russels Regierung zu erheben, denen nichts wichtiger ist, als ihn so schnell als möglich loszuwerden. Ich schätze, maximal zwei Wochen genügen vollauf."

 „Gut. Und wo?" Reggie Love beschrieb ihm ein geeignetes Lokal mitten in Washington. Er nickte wieder. „Okay. Ich rechne fest mit Ihnen, Reggie. Sollte ich aber an diesem Treffen – aus welchen Gründen auch immer – nicht teilnehmen können, dann versprechen Sie mir bitte, dass Sie meinen Platz einnehmen und den Leuten unser Vorgehen erklären werden … Und denken Sie immer daran, wir brauchen jede einzelne Stimme!"

 „Ich bin Ihr Mann, Mr. Coburn." Der Händedruck wurde noch etwas fester, was das Versprechen noch bestärkte. In seinem rundlichen Gesicht glänzten die schwarzen Augen wie blank polierte Kiesel. James nickte ihm zu. „Ich danke Ihnen, Reggie. Auf Wiedersehen."

 „Ja. Und seien Sie vorsichtig!"

 „Das werde ich. Sie auch!"

„Keine Angst." Der Schwarze zeigte wieder seine weißen Zähne, dann drehte sich Coburn um und verschwand eiligst durch das Portal. Love rückte seine Mütze zurecht und sog tief die dicke Luft ein. Die sollen nur kommen..., dachte er gerüstet, diese weissen, arroganten Arschgesichter!